Paula McLain: Nacht ohne Sterne, Aus dem Amerikanischen von Yasemin Dinçer, Rütten & Loening im Aufbau Verlag, Berlin 2021, 439 Seiten, €18,00, 978-3-352-00958-7


„Hier fühle ich mich ihm näher und auch den Antworten, nach denen ich suche, um mich selbst wieder zusammenzufügen wie ein zerbrochenes und verstreutes Puzzle.“

Herbst 1993: Anna Louise Harts Arbeit als Ermittlerin auf der Suche nach verschwundenen Kindern in San Francisco bringt sie an den Rand ihrer Kräfte. Unverzeihliches geschieht und sie sucht für sich einen Ausweg, indem sie dahin fährt, wo sie als Kind am glücklichsten war. In Mendocino.
Aus der Ich-Perspektive erzählt Anna Hart vom Gegenwärtigen, aber sie erinnert sich auch an ihre Kindheit und ihre Jugend. Als ihre drogenabhängige Mutter am Weihnachtsabend, Anna ist acht Jahre alt, zu ihr und den Geschwistern nicht mehr zurückkehrt, beginnt für sie eine schwere Zeit in Pflegefamilien. Erst bei den Straters, bei Hap und Eden, kann Anna sich wohlfühlen. Mit Hap, der Förster ist, lernt sie den Wald und auch Überlebensstrategien in der Natur kennen. Eden stirbt, da hat Anna das Haus bereits verlassen, Hap verschwindet im Wald, man geht von Selbstmord aus.
Doch nun vor Ort, in einer Hütte im Wald, kann Anna nachdenken. Sie trifft ihren alten Freund Will Flood, der nun Sheriff wie sein Vater geworden ist. Auch Caleb, der malt und durch die Bilder des Vaters zu Geld gekommen ist, lebt wieder im Heimatort. Calebs Zwillingsschwester Jenny, ein Trauma der damaligen Jugendlichen, entschwand unauffindbar mit siebzehn Jahren.

Doch nun ist wieder ein fünfzehnjähriges Mädchen, Cameron Curtis, spurlos verschwunden. Will hofft auf die Hilfe von Anna. Als sie erfährt, dass auch dieses Kind adoptiert wurde und mit vier Jahren zu Troy und Emily Hague, einer sehr bekannte Schauspielerin, kam, ist ihr Interesse geweckt. Anna kann gar nicht anders, sie muss, und das ist die Bedingung, im Stillen die Arbeit aufnehmen. Schnell erkennt die Ermittlerin, dass Cameron nicht entführt wurde, sondern aus eigenem Antrieb die Alarmanlage ausgeschaltet und gegangen ist. Durch einen Freund in der Schule wird auch deutlicher, dass Cameron bei einer Untersuchung erfahren hat, dass sie Vernarbungen also Hinweise auf sexuellen Missbrauch in sich trägt. Anna geht auch durch ihre Erfahrungen immer davon aus, dass oftmals Gewaltkreisläufe in der Familie stattfinden. Emily kann nicht fassen, dass ihrem Kind das geschehen sein könnte. Die eigenen Spannungen zwischen Emily und Troy, der oft und gern fremdgeht, haben sicher zu Camerons Schweigsamkeit beigetragen. Doch in diesem Fall hält sich der Täter nicht im nahen Umkreis der Familie auf. Denn noch ein junges Mädchen, Shannan Russo, wird gesucht und nun schaltet sich auch das FBI ein.
Durch intensive Recherche und Befragungen kann Anna sich ein Bild von Camerons Leben machen, sie ahnt, wer das Mädchen aus ihrem Schneckenhaus herausgelockt hat und findet den entscheidenden Hinweis in einer Annonce.

Subtil, sprachlich anspruchsvoll und auch fachlich kompetent führt die amerikanische Autorin Paula McLain ihre Leser und Leserinnen durch die Abgründe menschlicher Existenzen. Wie nah können Eltern bei aller Aufmerksamkeit ihren pubertierenden Kindern kommen? Wie kann es sein, dass eine Mutter nicht bemerkt, dass ihr Kind sexuell missbraucht wird? Stimmungsschwankungen, Krankheitssymptome werden beiseite geschoben, da man viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist oder den Eskapaden des Ehemannes.
Kein Frage, Paula McLain hat sich einen gut durchdachten, zum Teil auch nah an der Realität beobachteten Plot ausgedacht, der Gewaltszenen nicht unnötig beschreibt, aber auch nicht umschifft.

Nah an ihrer Protagonistin erzählt Paula McLain fesselnd von einem Trauma, aber auch Schuld, Konflikten in Familien aller möglichen Gesellschaftsschichten und der Polizeiarbeit Anfang der 1990er Jahren.