Sofie Cramer, Kati Naumann: Nachtflug, TB, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 284 Seiten, €9,90, 978-3-499-27411-4
„Milan hatte bewusst gelogen. Und ich hatte mich wie ein dummes Äffchen mit einer Banane aus dem Urwald locken lassen.“
Zwei völlig unterschiedliche Menschen treffen auf engstem Raum, allerdings ist die Business class noch etwas komfortabler als die Economy class, aufeinander. Zum einen ist da Ingrid Meier, eine 56-jährige, völlig weltfremde, kompakte Frau, die als Garderobiere in einem Opernhaus arbeitet und zum ersten Mal überhaupt ins Ausland fliegt. Und da ist Jakob von Wieding, der weltgewandte Anwalt und Vielflieger zwischen Berlin und New York, der sich für den Flug genug Arbeit vorgenommen hat.
Aus beider Sicht jeweils wird nun erzählt und alles beginnt damit, dass Ingrid den Abflug des Flugzeuges nach New York durch ein dubioses Gepäckstück aufhält.
Der höfliche Jakob kann sich der etwas naiven und mächtig nach Parfüm riechenden Frau, die sofort alle Fotos von ihrem Sohn vom Baby bis zum erwachsenen Mann präsentiert, nicht entziehen und so kommen die beiden ins Gespräch, denn Ingrid wartet mit einer wirklich verwirrenden Geschichte auf. Sie ist angeblich mit zwei Männern verheiratet. Nun gut, von dem einen ist sie hoffentlich bald geschieden, aber mit dem anderen verbindet sie alles, ihre Hoffnungen für die Zukunft und die absurde Idee, sie könne dreißig Jahre einfach mal so zurückholen. Ingrid ist in erster Ehe mit dem Stardirigenten der MET, Milan Bering, verheiratet. Allerdings ist der 71-Jährige an Krebs erkrankt und nun hat er sie zu sich eingeladen und ihr dieses teure Flugticket spendiert.
Der zwanzig Jahre ältere Milan hat Ingrid zu DDR-Zeiten als Studentin der Musikwissenschaften kennengelernt und sie geheiratet. Als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte, war er sichtlich gerührt und noch glücklicher, da er nun familiär gebunden in den Westen reisen durfte und dort blieb. Nie mehr hat Ingrid von ihrem Ehemann gehört, auch nicht nach der Wende. Er hat sich weder um ihr Schicksal, sie wurde exmatrikuliert und sozusagen mit einem anderen Mann auf Geheiß ihrer Familie und der Stasi, einem brutalen Handwerker, verheiratet. Ihr Sohn Christian hat die Musikalität des Vaters geerbt, auch nach ihm hat Milan nie gefragt. Jakob sagt Ingrid sofort auf den Kopf zu, was er von diesem Musikgenie hält. Für ihn ist er, Talent und Politik hin oder her, ein egoistischer Mensch und wenn Ingrid ein bisschen realistischer die Sache betrachten würde, käme sie zu dem gleichen Schluss.
Aber Ingrid musste sich fügen, auch dem Diktat ihrer harten Mutter, um die sie sich heute kümmern muss. Der einzige Mensch, der es gut mit ihr meint, ist ihr Schwager Bernd. Aber was kann dieser schon gegen einen berühmten Prominenten ausrichten, der der einstigen Ehefrau nun nach dreißig Jahren sein Vermögen zu Füßen legt? Im Gespräch mit Ingrid, die nicht umsonst so viele Ratgeber gelesen hat, enthüllen sich langsam auch Jakobs familiäre Probleme. Jakobs Frau hütet die beiden Kinder und verbringt kaum Zeit mit ihrem Ehemann, zumal dieser sich auch noch auf eine Affäre mit seiner energischen Chefin eingelassen hat. Aber Jakob weiß, dass er mit seiner Arbeit in New York alles finanzieren muss, das große Haus, die Ansprüche und Erwartungen seiner Frau. Als dann das Flugzeug auch noch in ein Unwetter fliegt und Ingrid und Jakob, die sich mal streiten, dann wieder um Harmonie besorgt sind und sich letztendlich sogar das Du anbieten, kann Jakob nicht mehr an sich halten und muss Ingrid unbedingt erzählen, was er über ihren heiligen Milan zu wissen glaubt.
Amüsant und in hohem Tempo spielen sich die beiden gegensätzlichen Akteure dieser unterhaltsamen Geschichte die Bälle zu. Sicher muss man dieses Buch nicht in einem Flugzeug lesen, aber die Lektüre verkürzt die Flugzeit ungemein. Der altersmäßige Abstand zwischen den Gesprächspartnern mit unterschiedlichen Herkünften und Lebenserfahrungen sorgt auch für Komik, zumal die Stewardess glaubt, Ingrid sei die Mutter von Jakob. Der smarte Anzugträger ist der hausbackenen Träumerin zum Glück nicht überlegen und am Ende finden beide sogar ein Arrangement, bei dem beide vielleicht richtig glücklich werden.
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