Martyn Bedford: Crash ins falsche Leben, Aus dem Englischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung, Deutscher Taschenbuch Verlag premium, München 2012, 338 Seiten, €12,90, 978-3-423-24933-1
„Flip zu sein war so, als spielte man die Hauptrolle in einem Film über einen Spezialagenten, der verdeckt arbeitete. Es war ein Leben voller Listen und Ausflüchte, wobei Alex\‘ äußere Erscheinung tagtäglich das innere Geheimnis seiner wahren Identität verbergen musste.“
Diese aufregende Geschichte entfaltet einen ungeheuren Sog, da sie so rätselhaft ist, dass man als Leser von Anfang an gebannt ist von Alex‘ Schicksal. Der 14-Jährige wacht nicht als Käfer auf, wie in Franz Kafkas Klassiker „Die Verwandlung“, sondern im Körper eines völlig fremden Jungen, in einer fremden Stadt und in einem fremden Haus. Sein Bewusstsein ist völlig klar, nur die muskulöse Gestalt, die andere Stimme, neue Eltern und eine ältere Schwester sind gewöhnungsbedürftig. Verwirrt und ohne logische Erklärungen wird Alex nun als Philip in sein neues Leben gestoßen. Erst nach und nach entstehen in Alex‘ Kopf mögliche, aber immer noch unwahrscheinliche Antworten auf die tausend Fragen, die ihn beschäftigen. Alex muss jetzt erstmal Philip, sein neues Ich und dessen Verhaltensweisen, kennenlernen.
Schnell bemerkt Alex, dass Philip in der Schule für Leute aus dem gehobenen Mittelstand ziemlich beliebt ist, immerhin sind zwei Mädchen sauer, da Alex sie nicht beachtet. Philip scheint jedoch ziemlich dämliche Freunde zu haben, raucht, spielt aktiv Kricket und weitere Sportarten. Alex jedoch war nie so angesagt in seiner Londoner Schule, er tritt gern gegen seinen Freund David beim Schachspiel an und spielt Klarinette. In der Familie von Philip bemerkt niemand die markante Veränderung, zumal die Jungen, das wird auch nach und nach klar, sehr unterschiedliche Charaktere besitzen. Nur Beagle, der Golden Retriever, knurrt, wenn Alex den Raum betritt.
Alex hält es in seinem neuen Körper, in dieser neuen Familie und in der Schule, in der er nur von einem Fiasko ins nächste tappt, nicht mehr aus. Er muss wissen, was ihm geschehen ist. Mit geklautem Geld reist Alex nach London und sucht unter einem Vorwand seine eigene Familie auf. Auch David, dem Alex eine Mail geschickt hat, kann er von seiner neuen Existenz nicht überzeugen. Alle halten Philip für einen aufdringlichen, ja perversen Schüler. Doch nicht nur ein Resultat bringt diese Reise zum Vorschein. Alex ist nicht tot, er liegt nach einem Autounfall mit Fahrerflucht seit einem halben Jahr im Wachkoma. Und Philip und Alex sind am gleichen Tag in dem Krankenhaus geboren, in dem Alex‘ Körper mit Philips Seele ausharren muss.
Wieder bei der fremden Familie in Leeds, die langsam nicht mehr versteht, was in ihrem Sohn, den die Polizei aufgegriffen hat, vor sich geht, sucht Alex nach Hinweisen im Netz und stößt nur auf Verrückte, die sich mit Seelenwanderungen angeblich auskennen.
Gefangen im Körper und der Welt eines anderen wehrt sich Alex jetzt gegen Philips Leben. Er weiß, er wird trotz zweiter Chance nicht glücklich. Und was ist mit Philip? \r\nNach längeren Fehlversuchen findet Alex endlich Rob, der ihm erklären wird, wie es zu diesem Bewusstseinssprung in den Körper eines anderen Menschen kommen konnte, denn Alex ist mit diesem Phänomen, das „psychische Evakuierung“ genannt wird, nicht allein. Die Erklärung jedoch hilft Alex kaum, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Er begreift wie qualvoll es Rob fällt, im Körper eines anderen zu leben.
Für Alex, dessen Körper ja noch lebt, besteht eine geringe Möglichkeit zu einer Rückkehr und die will Alex unbedingt nutzen.
Martyn Bedford erzählt die spannende wie aufreibende und zugleich subtile Geschichte einer Identitätsfindung unter geheimnisvollen Umständen. Detailreich und fast glaubwürdig schildert er, wie ein Jugendlicher unter aussichtslosen, wie unglaublichen Umständen in die Lebensphase einer anderen Person gezwungen wird und dabei sich selbst entdeckt, seine Hoffnungen, Wünsche und Gefühle.
Verrückt abgedrehter, aber faszinierender Thriller – eine fiktive Seelenreise ohne Mystik, eine Selbstfindung der anderen Art.
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