Dörte Hansen: Zur See, Penguin Verlag, München 2022, 253 Seiten, €24,00, 978-3-328-60222-4

„Kein Sommer mehr und doch kein Herbst, der frühe Nebel löst sich gerade auf. Es geht kein Wind, es räuspert sich der Tag und schlägt an sein Glas, man wartet auf Gedichte.“

In einem wirklich besonderen Ton, fast frei von Dialogen, erzählt Dörte Hansen erneut von Verlusten und vom Verschwinden. Die literarische Sprache, der in Husum geborenen Autorin, zieht jeden Lesenden auf die namenlose Nordseeinsel und zu den Bewohnern, die im Zentrum ihres dritten Romans stehen. Familie Sander bewohnt diese nun seit gut dreihundert Jahren. Niemanden der Sanders hat es bisher aufs ein Stunde mit der Fähre entfernte Festland gezogen. Doch die Insel hat sich verändert, registriert Hanne Sander. Immer wieder werfen Immobilienhaie ihr Angebote in den Briefkasten ihres altehrwürdigen Kapitänshauses. Gehörten die Sommergäste, die im Haus einquartiert wurden, früher zur Familie, so sind es heute eher Kurzurlauber, die sich eilig auch wieder von der Insel verziehen. Kaufen sich wohlbetuchte Leute Ferienhäuser auf der Insel, so ebbt die Begeisterung für die Sommerurlaube an der See auch schnell wieder ab. Nur die Einheimischen wissen, wie kalt die Insel sein kann. Mit wenig Respekt achten die Tagestouristen auf die Abgrenzungen und halten sich kaum an Regeln. Die alten Fischer bauen voller Verachtung ihre Kutter zu Touristenschiffen um, da der Fang nichts mehr bringt.
Dörte Hansen umkreist neben den Beschreibungen der Insel heute wie gestern die Familie Sander. Die Eheleute haben sich entweder angeschrien oder angeschwiegen.

„Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können. Und ihren Ältesten nicht davon abgehalten, diesen Fehler noch einmal zu machen.“

Kaum harmonisch kann man diese Ehe zwischen Hanne und Jens nennen, und auch nicht das Familienleben. Hanne wird so beschrieben:

„Sie ist nicht unfreundlich, sie baut nur keine Brücken. Bleibt, wo sie ist, und sieht dem Gegenüber zu, wenn es ins Leere läuft und strampelnd in der Luft hängt.“

So hat sich Jens Sander als Vogelwart von der Familie abgesetzt als seine Tochter Eske fünfzehn Jahre alt war. Doch auf dem Driftland ist er nur noch geduldet. Längst interessiert sich eine neue Generation mit neuester Technik für die Tiere. Rykmer Sander, der älteste Sohn, ist mit seinen gut vierzig Jahren nach einem traumatischen Erlebnis als Kapitän wieder bei der Mutter eingezogen. Der Sohn arbeitet nun auf der Fähre und besäuft sich jeden Abend. Henrik, der Jüngste, der Außenseiter, der immer barfuß läuft, ist nie zur See gefahren. Als Künstler wie per Zufall gestaltet er aus Treibholz Kunstwerke, die sich erfolgreich verkaufen.
Tochter Eske Sander, tätowiert fast am ganzen Körper, arbeitet als Pflegerin und streitet sich wie eh und je mit ihrer Mutter Hanne.
Doch dann strandet ein Wal und etwas geschieht, was man nicht für möglich gehalten hätte.

Dörte Hansen kann vom Heute und auch Gestern erzählen und mit den inneren Stimmen ihrer Protagonisten die Lesenden fesseln. Ein wunderbarer Roman für alle, die das Meer lieben und vielleicht nicht unbedingt auf einer Insel leben wollen, aber vielleicht doch ab und zu davon träumen.