Dennis Lehane: Sekunden der Gnade, Aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch, Diogenes Verlag, Zürich 2023, 400 Seiten, €26,00, 978-3-257-07258-7

„Bobby gewinnt den Eindruck, dass im Innersten dieser Frau etwas unrettbar Zerbrochenes wie auch nicht zu Brechendes liegt. Und diese beiden Eigenschaften gehen nicht zusammen. Ein gebrochener Mensch kann nicht gleichzeitig unzerbrechlich sein. Und doch sitzt hier Mary Pat Fennessy vor ihm, gebrochen, aber unzerbrechlich. Das Paradox macht ihm eine Heidenangst.“

Anfang der 1970er Jahre versucht ein Richter, etwas gegen die Diskriminierung von schwarzen Schülern zu unternehmen. Er ordnet an, dass schwarze wie weiße Schüler ihre Schulen tauschen. Alles sollte per Bustransfer organisiert werden. Doch in der weißen, insbesondere irischen Bevölkerung regt sich immenser Widerstand gegen diese für sie so angesehene Justizdiktatur. Der Initatior des Aufstandes ist Brian Butler. Er und seine Familie sind sozusagen die Schutzmacht in einer bestimmten Region der Stadt. Auf seiner Seite zu Beginn ist auch Mary Pat Fennessy, eine hart arbeitende zweiundvierzigjährige Frau, die ihren Sohn nach seinem Einsatz in Vietnam an die Drogen verloren hat. Als alleinerziehende Krankenhaushelferin kommen sie und ihre siebzehnjährige Tochter Jules geradeso über die Runden, auch wenn immer wieder mal das Gas abgestellt wird.

Mary Pat stimmt ein, wenn ihre Kolleginnen gegen die Schwarzen hetzen, außer sie sind so fleißig und arbeitsam wie Dreamy Williamson. Allerdings hat sich Dreamy zum ersten Mal krank gemeldet. Es heißt ihr Drogendealersohn sei ums Leben gekommen. Eine Lüge, denn Auggie dealt nicht und er wurde von weißen Jugendlichen auf dem Bahnhof in den Tod gejagt. Am gleichen Abend verschwindet Mary Pats Tochter Jules.

Das ist die Ausgangssituation der Handlung, die sich im weiteren Verlauf zu einem dramatischen Rachefeldzug einer einsamen Mutter gegen die einflussreichen Männer entwickeln wird. Immer wieder wechselt Dennis Lahane die Perspektiven und zeigt auch die Sicht der Polizei bei den Vernehmungen insbesondere der weißen Jugendlichen, zu denen auch Jules gehörte. Bobby Coyne ahnt, dass der Tod des schwarzen Jugendlichen kaum Strafen nach sich ziehen wird, denn Ronald Collins, Jules Freund und ihre Freundin Brenda Morello streiten alles ab. Schnell ist die Anwältin des Butler-Clans anwesend und die Jugendlichen verlassen das Polizeirevier. Mary Pat versucht dann, ihre ganz eigenen Befragungen durchzuführen und sie schlägt zu, wenn sie keine Antworten erhält. Während ihrer Suche nach Jules wird ihr so einiges, auch über ihre minderjährige Tochter klar und sie weiß, Jules Hass auf Schwarze ist auch ihre Schuld. Doch was ist wirklich am Bahnhof passiert? Und vor allem, wo ist Jules? Als Butler Mary Pat erzählt, dass Jules angeblich in Florida ist und er ihr auch noch Geld anbietet, weiß die Mutter, dass ihre Tochter tot ist. Und nun gibt es kein Halten mehr für sie. Sie will die Wahrheit wissen und sie will, dass der Schuldige büßt, auch wenn das das Letzte ist, was sie erleben wird.

Ohne zu moralisieren, zeigt Dennis Lehane wie tief der Rassenhass in den Menschen steckte und steckt. In gewisser Weise schlägt die Handlung dieses Romans auch einen Bogen in unsere Zeit, in der die Ermordung eines Schwarzen durch brutale Polizeigewalt nicht immer zu Haftstrafen führen muss. Zwischen Sympathie und Antipathie für Mary Pat, die sich mit Jules auch immer nach einem anderen Leben gesehnt hat, hin und her geworfen, liest man diesen spannenden Roman atemlos bis zur letzten Seite und hofft auf ein gutes Ende, das es, jeder wird es ahnen, nicht geben wird, denn es fehlt an den Sekunden der Gnade.