Anika Landsteiner: Nachts erzähle ich dir alles, S. Fischer Krüger Verlag, Frankfurt am Main 2023, 368 Seiten, €24,00, 978-3-8105-3087-5

„Und Léa dachte ( sagte aber nichts): Das wird kein Urlaub. Das wir eine Zeitreise und zeitreisen war noch nie entspannend.“

Nach achtzehn Jahren kehrt die fünfunddreißigjährige Léa Aury in das einst von ihrem Großvater erbaute Haus an der Côte d’Azur zurück. Nachdem sie nach abgebrochenem Studium ihre Leidenschaft fürs Backen entdeckt und ihr eigenes kleines Café in München eröffnet hat, drückt die Arbeitslast sie langsam in die Knie. Außerdem hat sie sich aus ihrer langjährigen Beziehung zu Antonia gelöst. Toni wollte mehr Zeit mit Léa verbringen und sie wollte ein Kind. Nach einem Unfall, verursacht durch einen Sekundenschlaf im Auto mitten in München, hat Léa die Reißleine gezogen und sich in diesem Sommer entschlossen, auch auf Drängen ihrer Mutter Brigitte, endlich auszuspannen.

Durch einen personalen Erzähler folgen die Lesenden nun Léas Spuren und diese führen auch in die Vergangenheit. Und kursiv wird von Claires Vergangenheit berichtet. Sie wohnt in der Nähe vom Sommerhaus und ist eine sehr gute Freundin von Brigitte.

Natürlich denkt Léa oft darüber nach, ob ihre Entscheidung, sich von Toni zu trennen, die richtige war. Allein von ihrer Mutter aufgezogen, drängt sich nach einem Selbstfindungstrip plötzlich ihr biologischer Vater in ihr Leben. Von Claire sehr freundlich in Empfang genommen, versucht Léa im Haus auf den Klippen mit Blick aufs Meer anzukommen. In der Nacht begegnet sie im Garten des Hauses einem Mädchen. Alice ist sechzehn und wirkt irgendwie ruhelos. Beide führen ein langes Gespräch und Alice offenbart der Fremden sogar, dass sie Geschichten schreibt. Am nächsten Tag jedoch erfährt Léa, dass Alice auf der Intensivstation liegt. Sie ist im Haus der Eltern in der Badewanne verunglückt. Oder war es doch ein Selbstmordversuch? Stunden später ist sie tot. Schnell spricht sich in dem kleinen Ort herum, dass Léa die letzte Person war, mit der Alice gesprochen hat. Und so steht ein trauernder, aber auch aufgebrachter Émile Bernard, der Bruder der jungen Frau, vor Léas Tür. Beider Begegnung ist am Anfang eher holprig, denn der leicht aggressive Émile will Léas Aussagen sofort aufnehmen. Das beunruhigt die junge Frau. Émile hat als bekannter Journalist in Paris einen Podcast, den gut 2,7 Millionen Follower hören. Die gesamte Situation spitzt sich noch zu, als öffentlich wird, dass Alice schwanger war. Da weder Alice noch Émile ein gutes Verhältnis zu den sehr rechts denkenden Eltern hatten, quält sich der Bruder nun mit dem Gedanken, nicht für die Schwester dagewesen zu sein. Léa kann sich Émile nicht entziehen und so begleitet sie ihn bei seinen Recherchen und Befragungen, z.B. der engsten Freundin Esther, aber auch dem potenziellen Kindesvater JP. Als Esther sich dann doch dafür entscheidet, mehr über Alice und die Schwangerschaft zu erzählen, ergibt sich plötzlich ein verheerendes Bild. Hatten die Mädchen doch bei einer Hotline angerufen, die zwar vorgab beim Schwangerschaftsabbruch an der Seite der Betroffenen zu stehen, aber manipulativ, auch mit falschen Informationen und Drohszenarien, die Anrufenden eher zum Austragen des Kindes zu bewegen. Diesen Machenschaften will Émile nun in seinem Podcast auf den Grund gehen, was seine ihm fremd gewordenen Eltern beunruhigt.

Parallel zu der auch phasenweise schwierigen Liebesgeschichte zwischen Léa und Émile, dreht sich die Handlung auch um Claire, die nun Léa gesteht, wie verliebt sie einst in Léas Mutter Brigitte war und sich doch für eine bürgerliche Ehe entschieden hatte.

Auch Léa gerät mit ihrer Mutter in heftige Diskussionen, denn sie glaubt, dass sie durch ihre Existenz den einst so hoffnungsvoll geplanten Lebensweg der Mutter zerstört hat.

Grundsatzdiskussion über die Liebe in all ihren Facetten, über Fragen des Schwangerschaftsabbruches, aber auch Schuld, politisches Denken, wie Handeln und Zukunftsideen spielen in diesem so gut lesbaren Roman eine wichtige Rolle.