Alina Herbing: Tiere, vor denen man Angst haben muss, Arche Verlag, Zürich 2024, 256 Seiten, €24,00, 978-3-7160-2818-6

„’Seht ihr‘, sagte unsere Mutter, als sie später nach Hause kam, ‚eigentlich reicht doch Regenwasser. Ihr seid viel zu verwöhnt. Ich weiß gar nicht, warum wir den Anschluss haben legen lassen.“
Sie stellte eine Palette Katzenfutter auf den Küchentisch, und die Hunde sprangen an ihr hoch.“

Eine alleinerziehende Mutter, die sich mehr um die Existenz der Ratten und Mäuse in ihrem Haus als um das Wohlergehen der Kinder sorgt, ist schon eher die Ausnahme in einer Welt, in der um Kinder wie ums Goldene Kalb getanzt wird. Doch Madeleine, die Ich-Erzählerin, und ihre Geschwister Ronja, Helge und Lasse, er wohnt später dann beim Vater, haben es nicht leicht. Schon gar nicht im Winter, wenn der Ofen nicht mit Kohle beheizt werden kann, da die Mutter keine bestellt hat und Madeleine sich regelmäßig auf die Suche nach Heizbarem im alten Haus in Mecklenburg aufmacht. Dabei muss sie in den einzelnen Zimmer aufpassen, denn sie hat Angst vor den bissigen Hunden der Mutter, die als Streuner oder unberechenbar in ihrem Verhalten, sie verletzen oder heftig anknurren. Längst haben die Tiere, Katzen, Hunde, Mäuse, Ratten, Ziegen, Wildschweine und was es noch so gibt die Herrschaft im Haus übernommen. Sie müssen von den Kindern zuerst gefüttert werden, schlafen in den Betten und liegen auf dem Tisch in der Küche. Ein Rätsel, dass die Mädchen immer noch eifrig für die Schule lernen und nicht opponieren. Immerhin muss Madeleine, wenn sie länger Unterricht hat, abgeholt werden. Regelmäßig darf sie bei jedem Wetter stundenlang auf die Mutter und ihren stinkenden Trabi warten.
Einst ist die Familie von einer Villa am Stadtrand von Lübeck nach der Wende nach Mecklenburg in ein verfallenes Haus gezogen. Die Mutter, gelernte Krankenschwester, wollte sich vom Kapitalismus abwenden, den die Dorfbewohner durch die friedliche Revolution offenbar herbeigesehnt hatten. Aktiv bei den Grünen lernten sich Mutter und Vater, jetzt als Arzt tätig, kennen.
Auch Alina Herbing zog, als sie sieben Jahre alt war, mit ihren Eltern und drei Geschwistern von Lübeck hinter die gerade gefallene Grenze. Angezogen vom weiten Blick ist die Aussicht auf diese fantastische Landschaft im Sommer sicher idyllisch. Im Winter allerdings leiden die Kinder unter der Lieblosigkeit der Mutter, wegen einiger Affären lässt sie die Kinder auch über Nacht allein, und dem Desinteresse des Vaters. Beide zwingen Madeleine und Ronja in die Rolle der viel zu früh erwachsenen Jugendlichen, die viel zu früh Verantwortung für sich selbst übernehmen müssen. Von Freundinnen wird nie berichtet, eher von Fremdheit und Einsamkeit.
Klar ist auch, dass die Mutter kein Geld verdient ( Kinder haben aus Umweltgründen oder auch politischen Erwägungen weder einen Fernseher, noch Handys.) und all ihre Aktivitäten für räudige Hunde und verlassene Kreaturen ihrer Liebe zu den Tieren entspringt. Mahnungen verstopfen den Briefkasten, dessen Schlüssel die Mutter weggeworfen hat. Wenn die Kinder auf Post warten, müssen sie mit allen möglichen Mitteln versuchen, die Briefe oder Karten herauszufischen.
Die Ich – Erzählerin erinnert sich zeitlich ungeordnet immer wieder an Episoden aus der Vergangenheit und so setzt sich für die Lesenden erst langsam ein Bild vom Leben auf dem verlassenen Land zusammen. Je älter sie wird, um so mehr träumt sie sich an andere Orte, erlebt nicht Kindheit und Jugend wie es anderen möglich ist. Ist es vielleicht mit sieben Jahren noch aufregend auf dem Dorf, so verändert sich dies, wenn der weite Schulweg zu bewältigen ist und die Pubertät ansteht. Mit einer Mutter, wie sie Madeleine beschreibt, ist dann die Position der Außenseiter für die Kinder vorprogrammiert. Die Welt auf dem Dorf ist klein.

Ist dieser Roman nicht als autofiktionaler Text ausgewiesen, so erinnert er doch an Julia Francks Roman „Welten auseinander“. Die Autorin erzählt auch hier von einer extrem egoistischen Mutter, deren Kinder die Rollen der Erwachsenen frühzeitig übernehmen mussten.

Einfühlsam, insbesondere wenn es um die Geschwisterbeziehung geht, beschreibt Madeleine ihre Tage in einem Haus, in dem abzusehen ist, wann das Dach alles unter der Familie begraben könnte.