Doris Knecht: Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe, Carl Hanser Verlag Berlin, Berlin 2023, 240 Seiten, €24,00, 978-3-446-27803-5

„Wir befinden uns in einer Art Limbus, einer verwaschenen Zwischenwelt ohne erkennbaren Horizont: die Zwillinge zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, ich inzwischen erwachsen und alt, wir alle zwischen dieser Familienwohnung und unseren neuen Lebenssituationen.“

Den Charme dieses Buches macht der Klang der subjektiven Authentizität aus. Natürlich fragt man sich, ist das ein autofiktionaler Text oder nicht.

„Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhungen und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern von Fotoalben.“

Auf jeden Fall fühlt sie sich wohl an der Seite der Ich-Erzählerin und bangt um jede Entscheidung, denn diese müssen sicher viele Eltern, ob nun alleinerziehend oder noch ein Paar, durchstehen. Allerdings dauert der Ablösungsprozess bei vielen länger, denn so schnell wie die Zwillinge der fiktiven Autorin ein WG – Zimmer oder eine Wohnung in Wien ( mit Hilfe einer Freundin und Mutter ) finden, klappt es nicht in jeder Stadt.

Als die Ich-Erzählerin und von Beruf ebenfalls Autorin ahnt, immerhin hat sie sich schon mal mit den Kindern in der Corona-Zeit für einen treuen Hund entschieden, der allerdings im Auto kotzt, dass der Auszug ihrer Kinder, beide machen in Kürze die Matura, bevorsteht, beginnt sie sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie eine neue Wohnung benötigt. Ihre alte, große Wohnung kann sie mit der Alimentenzahlung ihres Ex-Mannes finanzieren. Begleitend zu den Veränderungen, denen ja oftmals ein Zauber innewohnt, beschließt die Erzählerin über ihr Leben zu schreiben. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in der Provinz, an die kulanten Eltern und ihre vier äußerst attraktiven Schwestern, jeweils zwei eineiige Zwillinge. Im Ort geblieben haben sich die Schwestern verheiratet und Häuser gebaut. Auch die Eltern wohnen immer noch im hart erarbeiteten Eigentum, 700 km entfernt von der Erzählerin. Nur sie hat ihre Wohnung gemietet und scheint sich nun, irgendwie schlecht zu fühlen, als hätte sie wie die Grille im Gegensatz zur Ameise nur Geld aus dem Fenster geworfen. Nach und nach jedoch rückt die Erzählerin dann aber damit heraus, dass sie auch Immobilien besitzt, eine kleine Wohnung in der Nähe, genutzt als Werkstatt zum Schreiben, und ein Häuschen auf dem Land. Gemeinsam gekauft, zahlte die Erzählerin ihren Ex-Mann nach der Scheidung aus.

Nicht sehr deutlich wird die Autorin, wenn sie über ihre Ehe schreibt. Zwar taucht der Vater der Kinder auf, wenn sie ihren Auszug organisieren, aber von Anfang an betont die Autorin, dass sie die Kinder nach der Scheidung ganz allein großgezogen ist. Warum hat der Vater sich nicht bei Entscheidungen und bei der Erziehung beteiligt?

Gut, die Erzählerin konzentriert sich auf ihr Leben und so geht es nun ans Ausmisten. Die Erinnerungen kleben aber nicht nur an diversem Kitsch von Reisen, sondern auch an Familienfotos von Sommerferien in Italien. Und dann sind da die sozialen Medien, die nicht nur Zeit, sondern auch längst vergessene Menschen zurückbringen können.

Ungeschminkt, ohne irgendetwas zu beschönigen, beschreibt die Erzählerin ihre über die Jahre hinweg nun sehr versiffte Küche, ihren Hang, Gegenstände bis hin zum Pass, der sich allerdings wieder anfindet, zu verlieren und die Tatsache, dass in ihrem Haushalt allerdings alle vierzehn Tage ein Mann putzt, der das einfach nicht kann. Sie macht in ihren Gedanken einen Ausflug in die Corona – Zeit und sie schreibt über den langsamen, aber stetigen Abschied von den Dingen des Alltags, die man laut dem Marie Kondo Prinzip auch loslassen kann.

Möchte ihre Tochter eigentlich in die kleine Wohnung, die offenbar noch abbezahlt werden muss ziehen, so weiß der Sohn nur, dass er mit seinem Freund Jacob eine WG gründen will. Die eifrige Mutter von Jacob findet die passende Wohnung für die Jungen, die dafür keinen Finger krumm machen mussten, in der Nähe und der Umzug ist fast erledigt.

Die Wohnungssuche gestaltet sich für die Erzählerin allerdings in Wien kompliziert und nichts ist so perfekt, dass die Erzählerin sich sofort in eine bezahlbare neue, eigene Wohnung verliebt. Sind ihre Erwartungen oder gar Ansprüche zu hoch, insbesondere, wenn sie ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen will?

Das Pragmatische siegt. Als die Tochter dann doch in eine WG übersiedeln will, entschließt sich die Autorin für die eigene, doch sehr kleine Wohnung.

Mit dem Rückhalt der Freundinnen und eines Freundes ist alles leichter und die Trennung von Gegenständen, die man über Jahre nie angesehen, geschweige denn gebraucht hat, wird auch von mal zu mal einfacher.

Den Schmerz des Abschieds von einem Lebensabschnitt kann die Autorin, die mit ihren Kindern äußerst entspannt und gelassen umgeht, noch nicht so richtig beschreiben, denn noch ist sie mit ihrer neuen Wohnsituation beschäftigt und die Kinder reisen erst mal nach der Matura und senden ihre Insta-Storys, auch eine neue Erfahrung für Eltern, im Guten wie kaum Erträglichen.

Wunderbare, bodenständige Lektüre mit vielen Sätzen und Beobachtungen, die man sich anstreichen möchte, realistisch, komisch und vor allem absolut sympathisch.