Anja Reich: Simone, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 304 Seiten, €23,00, 978-3-351-039851

„Aber je länger meine Suche geht, je mehr Menschen ich treffe, die Simone kannten, desto mehr begreife ich, es gibt noch einen anderen Grund, warum ich mich auf ihre Spuren begeben habe, einen, der mehr mit mir zu tun hat als mit meiner Freundin: Ich wollte die Realität ändern, Simone noch einmal ins Leben zurückholen, die Zeit zurückdrehen, noch nicht Abschied nehmen.“

Simone ruft im Jahr 1996 bei der Berliner Zeitung an. Sie möchte gern ihrer Freundin Anja, zu der der Kontakt eigentlich gar nicht mehr so eng ist, ihre frisch renovierte Wohnung zeigen. Sie sagt noch lapidar, sie bringe jetzt Ordnung in ihr Leben. Doch die Freundin hat als Journalistin einen Berg Arbeit und Deadlines. Sie verschiebt das Treffen auf die kommende Woche. Zwei Stunden später ist Simone tot. Sie ist aus dem zehnten Stockwerk ihres Hauses gesprungen. Später wird Anja erfahren, dass Simone auch ihren Bruder André, zu dem sie eine sehr enge Bindung hatte, der allerdings mit seinem Umzug von Berlin ins Riesengebirge beschäftigt war, kontaktiert hatte. Wollte sie, dass Anja oder André sie finden? Wollte sie mit dem Schicksal würfeln und vom Haus aus hoch oben sehen, wer kommt und entscheiden, was sie machen wird? Niemand wird diese Frage beantworten können.

Warum tötet sich eine attraktive Frau von siebenundzwanzig Jahren auf diese grausige Weise?

Anja Reich, die in diesem autofiktionalen Roman oder eher ausführlichen, wie detailreichen Langrecherche, auch Anja genannt wird, kommt all ihren real existierenden Protagonisten sehr nah. Nach zehn Jahren versucht die Autorin sich der Familie, insbesondere dem Bruder von Simone, André, mit dem sie einst liiert war und so auch Simone, die jüngere Schwester, kennengelernt hat, zu befragen. Es ist noch zu früh. Zwanzig Jahre später ist dann die Zeit für Fragen an Familie und Freunde reif und Anja Reich vergräbt sich in Simones Familiengeschichte und sucht die Familienmitglieder auf, ein Teil stammt aus Tschechien, einem Dorf an der polnisch – tschechischen Grenze, die anderen kommen aus Mecklenburg-Vorpommern, dem Dorf Mirow.

Dana, die tschechische Mutter Simones, heiratet nach ihrer ersten Ehe mit Ralf, seinen Freund und auch ihren Beschützer Ulrich. Sie wird wohl nie akzentfrei Deutsch sprechen, ist aber eine ehrgeizige, zielstrebige und auch widersprüchliche Person. In allem wird sie sich ihrem Mann unterordnen, auch wenn sie es selbst nicht für richtig hält. Als Ärztepaar, sie ist Zahnärztin, er Gynäkologe, arbeiten beide viel und haben doch in der DDR so einige Privilegien. Bei den akribischen Befragungen stellt sich heraus, dass Simone als Kleinkind bis zu sieben Monaten in einer Wochenkrippe untergebracht war. Durch diese langen Trennungen von den Eltern litt die frühkindliche Bindung. Als die Familie dann nach Berlin – Lichtenberg ins Hans-Loch-Viertel umzog, ließen die Eltern ihre Tochter wochenlang bei den Verwandten in Tschechien. Da die Mutter nie mit den Kindern Tschechisch gesprochen hat, fühlte sich die kleine Simone zu Beginn völlig einsam und weinte wohl auch viel. Als die Eltern das Kind wieder abholen, sprach es kein Deutsch mehr und hielt sie für Fremde. Kinder hatten in der DDR zu funktionieren, auf sie nahm niemand Rücksicht. Den Druck, den die Eltern auch durch den erschwerten DDR-Alltag in der Provinz, aber auch beruflich aushalten mussten, gaben sie in den Familien oftmals weiter. Auch die Kinder hatten den Erwartungen der Eltern zu entsprechen. So hoffen die Eltern von Simone und André, dass auch ihre Kinder Medizin studieren. Die berufliche Abwesenheit versuchen die Eltern, durch eine erhöhte Kontrolle zu kompensieren. So viel Mist auch André als opponierender Teenager bauen wird, er weiß, seine Eltern werden ihn immer beschützen. Auch Simone braucht diese Nähe zu den Eltern, die Überbehütung, die Bindung an den Vater und doch wird auch sie sich lösen, vielleicht nie ganz.

Als die Autorin fünfzehn ist, lernt sie die etwas jüngere, modebewusste Simone, die eine Schönheit ist, kennen. Simone wird früh mit Jungen schlafen, trinken und rauchen. Sie geht zu ihrer Mutter in die Zahnarztpraxis und zu ihrem Vater ins Krankenhaus, wenn sie ein Problem hat. Sie ist auf eine berückende Art ehrlich, direkt. Die Mutter fordert sie auf, doch bei persönlichen Themen sich nicht jedem anzuvertrauen.

Anja Reich schildert diese Lebenszeit der Familie von Simone in der DDR authentisch und nahbar.

Nach dem Mauerfall, Simone und Anja studieren in Berlin und Leipzig, driftet beider Freundschaft auseinander. Anja erkundet die nun neue, offene Welt, heiratet, lässt sich scheiden, findet erneut einen Partner und bekommt einen Sohn. Simone probiert alles Mögliche aus, schläft mit vielen Männern, hält sich an dem fünfzehn Jahre älteren Thomas fest, der allerdings keine Bindung will, reist nach Venezuela, um ihr Spanisch aufzufrischen und kommt schwanger zurück. Die Eltern organisieren die Abreibung. Die lebenshungrige, wankelmütige Frau wechselt von einer Leidenschaft zur nächsten, von einem Kurs zum nächsten, von einer Zerstreuung zur nächsten und schafft es nicht, ihr Studium zu beenden. Sie zerstreitet sich mit allen, die sie kennt. Geht selbstbewusst tanzen, lernt neue Leute kennen und gerät auch mit diesen in Konflikte. Geht in Therapie, auch initiiert durch die Eltern, die nach der Wende wieder kämpfen müssen und in Westdeutschland beruflich neu starten, fällt in Depressionen, wirkt seltsam empathielos und rappelt sich wieder auf.

Parallel zu den Geschehnissen, die Anja Reich schildert, in dem sie auch von sich einiges preisgibt, konsultiert die Autorin auch Fachleute, um sich Simones widersprüchliches Verhalten, von anhänglich, eifersüchtig, bis gleichgültig, erklären zu lassen. Sie durchforstet Simones Tagebücher, zitiert Passagen, sieht sich die Fotos an, ihre Briefe, alles, was sie hinterlassen hat und setzt so nach und nach ein Bild von einer jungen Frau zusammen, die völlig ihren Halt, den sie vielleicht, so seltsam es auch klingen mag, in der DDR „pseudostabilisierend“ hatte, verloren hat und auch nicht mehr in der Lage war, diesen in einem Menschen oder ihrem familiären Netzwerk zu finden. War sie psychisch krank, waren die Therapeuten unfähig? Lag es an den ständig abwesenden und doch fordernden Eltern, die ihre Geheimnisse hatten und ihrem Kind nie die Freiheit gaben, selbst Fehler zu machen und dafür einzustehen?

Ergreifend liest sich diese Lebensgeschichte einer jungen Frau zwischen dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung, die vielleicht im Nachhinein auch Wunden gerissen hat, die erst jetzt sichtbar werden. Am Ende bleiben immer noch Fragen und der Schmerz um den Verlust.