Emanuel Bergmann: Tahara, Diogenes Verlag, Zürich 2024, 288 Seiten, €25,00, 978-3-257-07243-3

„Er genoss den Schmerz. Vielleicht war es das, was Héloise und ihn verband. Immer wieder verletzten sie einander, immer wieder suchten sie den Schmerz, und je mehr sie das taten, desto enger waren sie verbunden. Er fühlte sich in diesem Moment lebendig. Warum auch nicht? Sein Leben war ein Scherbenhaufen.“

Marcel Klein, ein ziemlich gealterter festangestellter Filmkritiker Ende vierzig aus Berlin, reist im Auftrag des „Hollywood“ – Magazins nach Cannes. Im Gepäck trägt er all seine Sorgen mit sich, die er im Alkohol zu ertränken sucht. Er hat Geldsorgen und will kaum seine alte Mutter, die einst Schauspielerin werden wollte, anpumpen. Außerdem sind die Filmproduktionen auch nicht mehr das, was sie mal waren und die Printmedien taumeln von einer Krise zur nächsten. Einen guten Ruf hat Klein durch seine ausgezeichnet geführten Interviews. Allerdings hat er, der zu gern das Wort „Ehrlichkeit“ in den Mund nimmt, sich bei all seinen Terminen in Cannes nicht eine Frage notiert. Seine berufliche Karriere begann mit einem prämierten autobiografischen Text über die Tahara, die rituelle Reinigung im Judentum. Klein beschrieb in seinem Fall berührend die Totenwaschung seines Vaters. Durch seine Leidenschaft für Filme, die sein Vater nie für gut geheißen hatte, eroberte er sich eine gute Stellung in der Filmbranche. Bereits als Kind konnte er sich mit Filmen in andere Welten träumen und somit der Realität entfliehen. In der Gegenwart ist Klein eher zum Zyniker geworden, der nach seiner Scheidung eher auf kurze Abenteuer aus ist und sich selbst irgendwie verloren hat, immerhin kauft er trotz ständiger Anrufe seines erzürnten Bankmanagers zwei Hemden im Wert von 900€.
Als Klein dann die attraktive Héliose Becker, die von einer rätselhaften Traurigkeit umgeben ist, sieht, scheint er sich auf den ersten Blick zu verlieben. Zum Glück verehrt sie nicht nur Wim Wenders, sondern auch Charlie Chaplin. Immer wieder laufen sich die beiden in Cannes über den Weg und verwickeln sich bei jedem Gespräch in Streitereien und Missverständnisse. Héloise, eine französische Deutschlehrerin aus Metz, hat ihren Apotheker-Ehemann offenbar verlassen und entflieht ebenfalls dem Alltag bei den Reichen und Schönen auf dem Festival. Auch sie liebt das Kino, scheint aber immer wieder auch den Kick zu suchen, indem sie Sachen stiehlt oder Zechen prellt.
Klein geht seiner Arbeit nach und taumelt aber eher alkoholisiert von einer Party zur nächsten. Er kommt zu Terminen völlig unvorbereitet zu spät und stellt gerade dem aktuellen Filmstar Eva Vargas, deren Film er so gar nicht mag, total direkte Fragen. Da auch sie in der Krise steckt, ihr Freund scheint sie zu betrügen, ist sie äußerst dünnhäutig und nicht gerade gesprächig. Klein ärgert sich über seine Gesprächspartnerin, allerdings ist auch er nicht gerade gut vorbereitet. Dieses Interview wird ihm in jeglicher Hinsicht zum Verhängnis werden und eine Kette von turbulenten Ereignissen auslösen. Wie er und Héloise, die ebenso am Abgrund steht, sich dann irgendwann die Wahrheit sagen, liest sich äußerst berührend.

Emanuel Bergmann, der jahrelang als Filmkritiker gearbeitet hat, schreibt temporeich mal aus der Perspektive von Marcel Klein, mal aus Hélioses Blickwinkel. Beide wirken wie zwei Außenseiter, denen eine Talfahrt bevorsteht. Allerdings ahnt der Lesende nicht, welche Geheimnisse beide Protagonisten mit sich herumtragen. Lesende, die ebenso begeistert wie Klein, Héloise und Emanuel Bergmann vom eher alten Kino sind, werden ihre Freude an dieser Hommage an die Filmkunst sein und der bohrenden Frage, was ist echt und was ist eigentlich erfunden.