Constanze Neumann: Das Jahr ohne Sommer, Ullstein Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, €22,00, 978-3-5502-0229-2

„Die Gespräche kreisten um das neue und das alte Leben, um drüben, vor allem aber darum, wie gut es war, dass wir hier lebten, in der westlichsten Großstadt Deutschlands.
Doch Leipzig ließ uns nicht los, und bald schon diskutierte mein Vater und meine Tante darüber, wo dieser eine Blumenladen gewesen war – weißt du noch, der hatte vor allem Nelken, Rosen gab es fast nie – oder welche Straßenbahn zum Völkerschlachtdenkmal fuhr.“

Die namenlose Ich-Erzählerin beginnt von sich und ihrer Familie zu erzählen, da ist sie gerade mal drei Jahre alt. Ihre Eltern, die Mutter ist gut zwanzig Jahre jünger als der Vater, sind Musiker. Über Verwandte planen sie Mitte der 1970er Jahre ihre Flucht über die Transitstrecke aus der DDR und werden verraten.
Der Vater wird in Bautzen inhaftiert, die Mutter in Hoheneck. Das Kind muss kurzzeitig in ein Heim in Gera, darf dann aber bei den Großeltern, den Eltern der Mutter, in Leipzig wohnen.
Freigekauft vom Westen dauert es ziemlich lang, ehe das Kind endlich zu den Eltern reisen darf.
Immer aus der Perspektive der kindlichen Beobachtung ahnen die Lesenden, welche Konflikte zwischen den Erwachsenen zu großen Spannungen führen. Schwer erkrankt in der Haft kann die Mutter nicht mehr als Konzertgeigerin auftreten. Die Familie beginnt ihren Start in Westdeutschland in Kreuztal im Siegerland unweit von Essen. Sie wohnen bei der Mutter des Vaters und hier gibt es viele Streitereien, denn der Vater als Pianist sucht händeringend nach Arbeit. Als er eine Stelle als Leiter einer großen Musikschule in Aachen antritt, glätten sich die Wogen langsam. Die Familie ist verschuldet, denn auch die fehlgeschlagene Flucht muss bezahlt werden. Der Vater versucht seinen sächsischen Dialekt loszuwerden und schaut doch auch mit Skepsis auf die Rheinländer. Wenn die Familie sich in Ungarn oder der ČSSR mit unsicheren Gefühlen mit der Großmutter aus Leipzig trifft, dann stellt sich für das Kind wieder Vertrautheit her.
Constanze Neumann verfolgt den Weg der Familie bis in die Zeit der Wende. Für ihre Erzählerin bleibt dieses Gefühl des Lebens in zwei Welten – drinnen und draußen – lange bestehen.

„Drinnen herrschte die Angespanntheit meines Vaters, alles richtig zu machen, es zu schaffen in dem Land, das ihn und uns aufgenommen und Chancen gegeben hatte. Drinnen waren die DDR, Verwandte und Freunde in der alten Heimat, wie mein Vater sie nannte, Gefängnisgeschichten und die Angst meines Vaters, dass die westdeutschen Politiker die Gefahr, die von der UdSSR ausging, nicht ernst nahmen.“

Draußen war der westdeutsche Alltag, die Schule, die Musikschule, der Geigenunterricht und die alle nervende Pubertät. In kurzen Episoden verdeutlicht die Autorin das Fremdsein im neuen Leben, ob es nun um den kritischen, schnell aufbrausenden Vater geht, der in seiner Arbeit Ernsthaftigkeit, Korrektheit und vor allem das Leistungsprinzip betont und sich so wenig entspannt fühlen kann wie die Rheinländer oder die langen Gespräche der Familienmitglieder, die gedanklich immer in ihrem Alltagsleben in der DDR enden.
Familie Neumann, wie der Vater sie an einer Stelle nennt, genießt die Reisefreiheit, aber sie wissen auch, dass sie finanziell, auch wenn sie ein Haus bauen, immer noch Probleme haben.
Dieser Einblick in den Lebensweg der Familie verdeutlicht auch den Zwiespalt gerade in der deutsch-deutschen Zeitgeschichte, in der die einen nach der Wende mit gravierenden Veränderungen klarkommen zu müssen und die anderen im gewohnten Wohlstand einfach weiterleben. Alle diese Konflikte lassen sich auch auf die aktuellen Geschehnisse heute übertragen, diesen Zwiespalt, der sich offensichtlich auch im Wahlverhalten in den ostdeutschen Bundesländer spiegelt und der Enttäuschung über nicht eingelöste Versprechen.

Die Suche nach der Heimat bleibt der rote Faden, der sich bis zum Ende durch die Erinnerungen der Ich-Erzählerin ziehen. Zwar erschließt sich der Titel des Buches nicht ganz, aber:
Eine wunderbare vielleicht sogar autobiografische Geschichte – ehrlich, kritisch und berührend.