Nicci French: Blutsbande, Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller, C.Bertelsmann Verlag, München 2024, 480 Seiten, €17,00, 978-3-570-10498-9

„Aber eine letzte Sache musste sie noch erledigen. Wenn Bridget sagte, dass sie etwas über ihre Mutter wusste, wovon niemand sonst eine Ahnung hatte, dann würde sie nicht warten, bis sie es durch irgendeinen bescheuerten Podcast erfuhr. Sie wollte es von Bridget persönlich hören. Und zwar jetzt gleich.“

Charlotte Salter, die alle Charlie nannten, ist eine siebenundvierzigjährige Mutter von vier Kindern, Ehefrau und durchaus beliebt im Ort, die vor dreißig Jahren von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Als ihr Ehemann Alec 1990 seinen fünfzigsten Geburtstag in einer extra ausgeräumten Scheune feiern wollte, hatte sie sich um die Vorbereitungen gekümmert und war auch auf dem Weg zum Fest gesehen worden. Doch wohin ist sie wirklich gegangen? Wie kam ihr geliebter roter Mantel an den reißenden Fluss? Die ortsansässige, doch eher unfähige Polizei an der englischen Ostküste glaubt, dass sie in Kürze wieder vor der Tür stehen wird. Auch die fünfzehnjährige Tochter Etty hofft, dass die Mutter zurückkehren wird. Ihre älteren Brüder Niall, Paul und Ollie sind alle auf dem Sprung in ihr eigenes Leben und doch zutiefst beunruhigt. Seltsam uninteressiert am Verschwinden von Charlie ist nur ihr Ehemann. Die Polizei überprüft alle Alibis, sammelt unkoordiniert Beweismaterial und konstatiert, dass die Ehe der Salters zerrüttet und unglücklich war und Charlie offensichtlich vorhatte, ihren untreuen Mann gemeinsam mit Etty zu verlassen. Als dann jedoch der Leichnam von Duncan Ackerley von seinem Sohn Greg und Etty aus dem Fluß gezogen wird, dreht sich nochmal die Geschichte. Gemunkelt wurde schon lang, dass Charlie und Nachbar Duncan, seine Frau litt unter Depressionen, eine Beziehung hätten. Die ermittelnden und völlig überforderten wie selbstgefälligen Polizeibeamten jedenfalls haben die Akten ziemlich schnell geschlossen, da sie der Meinung waren, Duncan hätte Charlie ermordet und hätte aus Reue Selbstmord begangen, zumal seine Brille auf der Brücke gefunden wurde. Die am Boden zerstörte Etty hingegen vermutet eher, dass ihr Vater der Täter sein könnte.
Mit dieser tragischen Ausgangskonstellation konfrontieren Nicci Gerrard und Sean French, die Autoren dieses bis zur letzten Seite absolut spannenden Whodunit – Krimis, die Lesenden und erzählen im zweiten Teil des Romans von den Geschehnissen dreißig Jahre später. Wieder stehen die beiden Familien Salter und Ackerley im Mittelpunkt und wieder ist die Polizei inkompetent. Psychologisch genau gehen die Autoren nun der Frage nach, wie das Verschwinden der Mutter, die alle vermissen, das Leben der Kinder beeinflusst hat. Paul hat sich vor gut fünfundzwanzig Jahren das Leben genommen. Etty, heute alleinstehende und kinderlose Anwältin, hatte volljährig den Ort sofort verlassen und ist nie wieder zurückgekehrt. Ollie wurde zweimal geschieden und lebt in Bristol. Nur Niall hat eine Familie gegründet und ist im Ort geblieben, auch um sich um den nun dementen Vater zu kümmern. Als klar wird, dass Alec in ein Heim umziehen muss, bittet Niall die Geschwister um Hilfe beim Ausräumen des Hauses, in dem sich nicht viel verändert hat. Zeitgleich kehren die Ackerley Söhne, Greg und Morgan, in den Ort zurück. Morgan als bekannter Dokumentarfilmer will gemeinsam mit Greg einen Podcast über die beiden Todesfälle vor dreißig Jahren produzieren. Etty lehnt dieses Vorhaben entschieden ab, nur Ollie lässt sich von den Brüdern interviewen. Die beiden befragen alle möglichen Leute im Ort und suchen sogar den alten Ermittler auf, der sich seiner Sache nach all den Jahren immer noch sicher ist. Und sie erdreisten sich sogar, den alten Alec zu befragen und hoffen in seinem dementen Zustand auf ein Geständnis.
Als sie dann auch noch die mitteilsame Bridget Wolfe, die Etty engagiert hatte, um das Haus endgültig auszuräumen, in ein Gespräch verwickeln, beginnt die Geschichte sich erneut zu drehen.
Bridget wird durch Brandstiftung ums Leben kommen. Etty ist vor Ort und muss den grausigen Tod der Frau mitansehen. Ausgerechnet sie verhaften die erneut unfähigen Polizisten als Tatverdächtige. Im dritten Teil wird die durchsetzungsfähige, noch sehr junge Maud O’Connor aus London sich des Falles annehmen und endlich Licht ins Dunkle bringen. Mit welcher Akribie sie arbeitet und wie sie durch genau Recherche die zwei Cold Cases und das gegenwärtige Verbrechen 2022 in einen Zusammenhang bringen wird, liest sich atemberaubend spannend. Entstanden ist ein perfekt getimter und überzeugend konstruierter Krimi, bei dem keine Zeit bleibt für die Frage, warum man das jetzt liest oder ob nicht etwas anders wichtiger wäre.