Richard Russo: Jenseits der Erwartungen, Aus dem Englischen von Monika Köpfer, DuMont Buchverlag, Köln 2020, 428 Seiten, €22,00, 978-3-8321-8115-4

„An diesem Abend auf der Veranda schienen sie sich in einer Sache alle einig zu sein: Gut möglich, dass …. sie alles schafften konnten. Ob diese Empfindung nun wahrhaftig war oder – wie der Vietnamkrieg und die Welt, die sie im Begriff waren, in Besitz zu nehmen – eine einzige gleißende Lüge, war in diesem Moment irrelevant.“

Nach vierundvierzig Jahren treffen sich drei Freunde, die zusammen am Minerva College in Connecticut studiert hatten, 2015 für ein Wochenende auf Marthas Vineyard wieder. Alle sind nun sechsundsechzig Jahre alt und teils mehr oder weniger vom Alter gezeichnet.
Richard Russo erzählt jeweils aus der Sicht der drei Männer ihre Lebensgeschichten.

Da ist Lincoln von der Westküste. Als Familienvater von sechs Kindern lebt er mit seiner Collegeliebe Anita in Las Vegas. Zwar hat ihn die Krise von 2008 fast in die Knie gezwungen, aber nun geht es mit dem Immobilienmakler wieder aufwärts. Einst hatte er ein Häuschen von seiner Mutter auf Marthas Vineyard in Chilmark geerbt. Die Vermietung brachte über die Jahre Geld ein. Zu gern hätte Lincolns Mutter Zeit auf der Insel verbracht, aber Lincolns Vater, ein prinzipientreuer, wie sturer, dogmatischer Ehemann, wehrte sich dagegen. Sein Wort war Gesetz in der Familie, obwohl die Mutter das Geld hatte. Lincoln hatte zeitlebens ein gespaltenes Verhältnis zum Vater, um den er sich nun mit Hilfe seiner Frau kümmern muss. Lincoln überlegt, ob er das Haus nun doch verkaufen sollte. Sein unsympathischer Nachbar vor Ort, Mason Troyer, hatte bereits sein Interesse geäußert.

Teddy arbeitet als Kleinverleger. Lesen war für ihn schon immer die größte Leidenschaft, doch sein Beruf hat ihn nicht glücklich gemacht. Seine Eltern, beide Lehrer, die am liebsten die New York Times am Sonntagmorgen lasen, fanden, aus welchen Gründen auch immer, nie ein herzliches Verhältnis zu ihrem Sohn. Teddy leidet an panischen Angstzuständen. Er weiß auch, dass seinem Verlag bald der Geldgeber fehlen wird.

Mickey stammt aus einer kinderreichen Familie von Cape Code. Er arbeitet immer noch als Musiker und Toningenieur.

Als sich die Männer, die sogenannten Musketiere, nach langer Zeit wiedersehen, erinnern sie sich an ein letztes Treffen 1971 am Memorial Day. Die Einberufung nach Vietnam stand allen bevor und der erste sollte Mickey sein. Er hatte seinem Vater zwar versprochen, dass er sich der Pflicht nicht entziehen wollte, aber die Idee nach Kanada zu gehen, stand da schon im Raum. Gemeinsam mit dem vierten Musketier, der bildschönen und dazu reichen Jacy, wollten sie Mickey zur Flucht nach Kanada überzeugen.
Auch wenn so viel Zeit vergangen ist, Lincoln und auch Teddy grämen sich über das plötzliche Verschwinden der jungen Frau, in die alle drei verliebt waren. Am Ende des Treffens ist Jacy ohne Abschied zur Fähre getrampt und entschwunden. Eine Zeugin hatte sie angeblich auf der Fähre noch gesehen. Die Nachforschungen der Polizei blieben erfolglos. Wollte sich Jacy ihrer Verlobung mit dem aalglatten Vance entziehen oder gar ihrer Familie?
Lincoln beginnt wieder in der Vergangenheit zu wühlen, er sieht sich die alten Zeitungsartikel an und erweckt die Neugier eines Polizisten im Ruhestand. Sogar seinen Nachbarn, der damals Jacy belästigt hatte, bringt er ins Spiel. Auch seine Frau ruft er an und sie behauptet, an diesem Wochenende ging es darum, ob er sich für Jacy oder sie entscheiden würde.
Auch Teddy hatte eine intime Begegnung mit Jacy, die er nicht vergessen konnte.

Doch dann wird klar, dass alles ganz anders war. Jacy wurde nicht ermordet, wie Lincoln und der Polizist vermuteten.
Einen Rückblick ins Herz von Amerika offenbart Richard Russo, und dieser ist weder pathetisch noch nationalistisch. Klar wird, dass die Freunde voreinander Geheimnisse hatten und erst am Ende dieses Wochenendes ehrlich zueinander sein können.

Feinsinnig, klug, realistisch und vor allem mit Lebenserfahrung schreibt dieser preisgekrönte Autor über Macht, Verlust, Einsamkeit, Neid, Familie, Trauer und Liebe.