Lize Spit: Der ehrliche Finder, Aus dem Niederländischen von Helga Beuningen, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2024, 128 Seiten, €18,00, 978-3-10-397564-2

„ Er hatte der Lehrerin sogar einen Brief geschrieben, in dem er mitteilte, wenn Tristan nicht versetzt werden würde, würde er selbst sich weigern, in die vierte Klasse zu gehen – zwingen konnten sie ihn nicht dazu. Tristan hatte schließlich ohne Probleme in die nächste Klasse aufrücken dürfen.“

Als Tristan Ibrahimi, der albanische Junge aus dem Kosovo mit den sieben Geschwistern, der auf einem Ohr taub ist, Jimmy Sluis dritte Klasse betritt, weiß Jimmy, dass er nicht mehr allein sein wird. Als Nerd, sein Spitzname ist Einstein, und Streber verschrien fühlt Jimmy sich mit dem Außenseiter Tristan absolut wohl. Zwar ist Tristan zwei Jahre älter als er, aber er wird sein Freund. Rührend kümmert sich Jimmy um den Sprachunterricht, nicht nur für Tristan, sondern auch für die Geschwister. Er erarbeitet lebenspraktische Wörterlisten und er legt für Tristan ein Sammelalbum an. Jimmy ist der „ehrliche Finder“, der voller Sammelleidenschaft Flippos sucht. Flippos sind runde Plastikbuttons mit aufgedruckten Film- oder Comichelden, die Kartoffelchips-Tüten beiliegen. Jimmy klebt die Flippos in Sammelalben und führt akribisch Buch darüber. Nach und nach versteht Jimmy, wie schwer die Flucht der Ibrahimis über Land und Wasser vom Kosovo in das Dorf Bovenmeer gewesen sein muss. Aus diesem Grund lernt Tristan auch das Schwimmen, was Jimmy so gar nicht beherrscht.
Lize Split, die heute in Brüssel lebt, siedelt die Handlung ihres schmalen Romans in den 1990er Jahre an, in der Zeit des Kosovo-Krieges. Aus der personalen Erzählebene, die Jimmys Sicht verdeutlicht, spüren die Lesenden, wie mitfühlend sich die Dorfbewohner, es gibt auch Ausnahmen, den ankommenden Flüchtlingen gegenüber verhalten. Sie spenden viel zu viel Kleidung, elektrische Geräte und bieten Hilfe an. Schnell wird der Familie ein Haus zugewiesen und als Jimmy die Matratzen und Betten in einem Zimmer sieht, spürt er zum ersten Mal auch Neid auf die Großfamilie, ohne zu ahnen, dass sie gemeinsam auch aus Angst und furchtbaren Träumen zusammen schlafen. Jimmys Vater hat die Familie nach seiner finanziellen Pleite verlassen, und die Mutter scheint sich um den Sohn kaum zu kümmern.
Doch dann bekommt die albanische Großfamilie einen Ausweisungsbescheid, den der Vater fälschlicherweise unterschrieben hatte, da er dachte, es sei ein Arbeitsvertrag.
Tristan und seine Schwester Jetmira hecken einen Plan aus, um doch bleiben zu dürfen. Für Jimmy haben sie eine ganz wichtige Rolle erdacht, die seine Freundschaft zu Tristan auf die Probe stellen wird.
Zutiefst tragisch, wie aktuell ist dieser Jugendroman, der aber auch für erwachsene Lesende gut geeignet ist, auch wenn die Geschichte aus kindlicher Sicht erzählt wird. Die Figuren sind glaubwürdig und der dramatische Konflikt der ausgewiesenen Familie aktueller denn je.

Lize Split hat sich für ihren Roman von der wahren Geschichte einer zehnköpfigen Familie inspirieren lassen, die 1999 aus dem Dorf, in dem die Autorin aufgewachsen ist, aus Belgien abgeschoben werden sollte. Nach massiven Protesten der Dorfgemeinschaft bekam die Familie doch noch Asyl.