Liz Webb: Das Waldhaus – Jede Lüge führt dich näher an die Wahrheit, Aus dem Englischen von Ivana Marinović, Goldmann Verlag, München 2024, 416 Seiten, €16,00, 978-3-442-49538-2

„Ich fühle mich meinem Ziel so verlockend nahe, bin mir sicher, wenn ich endlich die richtige Version von Jen wiederauferstehen lasse, wenn alles sich fügt – wie die Abbilder in zwei gegenüberliegenden Spiegeln unauflösbar und endlos hin- und hergeworfen werden -, könnte ich für Dad schließlich ganz zu Mum werden. Und die Wahrheit entschlüsseln.“

Nicht aus freien Stücken musste Ich-Erzählerin Hannah Davidson zu ihrem dementen, vormals immer sehr schweigsamen Vater von Bristol nach London ziehen. Als Hannahs Vater dann von der Treppe stürzt und im Krankenhaus landet, setzen langsam die Erinnerungen ein. Hannah ist nun im Alter von ihrer charismatischen wie bildschönen Mutter Jen, die unweit ihres Hauses im Wald mit einem Küchenmesser erstochen wurde. Hannahs Bruder Reece ist nach wie vor der Meinung, dass nur der Vater, immerhin dreiundzwanzig Jahre älter, der Mörder gewesen ist. Zum Zeitpunkt der Tragödie 1996 war Hannah vierzehn Jahre alt und Reece kurz vorm Auszug und Eintritt in die Universität. Hannah hat ihren Bruder seit gut fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen, allerdings hat sie seine erfolgreiche Schauspielerkarriere verfolgt. Reece hat von Grund auf versucht sich von der Familie zu trennen, sogar einen neuen Namen angenommen. Dass er jetzt allerdings mit Mitte vierzig seine Autobiografie veröffentlicht, wirkt etwas eigenartig, zumal er sich laut Hannah in vielen Passagen falsch erinnert oder bewusst lügt.
In kursiven Textpassagen können die Lesenden Hannahs wahre Gedanken erfahren und diese sind oft ziemlich sarkastisch formuliert. Hannah hat den Schicksalsschlag der Familie, immerhin musste der Vater seine Universitätskarriere beenden, nie verwunden. Sie trinkt zu viel Alkohol und hat erst durch den Aufenthalt im Familienhaus an Gewicht verloren. Nun ähnelt sie äußerlich sehr der Mutter, hält sich selbst aber für unattraktiv. In einem Moment kann der Vater klar denken im nächsten ist er in seine Welt. Als er sich allerdings beim Anblick von Hannah bei ihr im Glauben sie sei seine Frau entschuldigt, beginnt Hannah sich nochmals intensiv mit dem Person und dem Tod der Mutter auseinanderzusetzen. Sie trifft ihren egozentrischen Bruder, den damaligen Ermittler, der nun am Rollstuhl gefesselt nicht mehr im Polizeidienst arbeitet und sie befragt die einstigen Freundinnen der Mutter und einen ihrer Liebhaber. Zu seltsam sind die aufdringlichen Blicke des Nachbarn Mr. Roberts. Im Zuge der Recherche gewinnt Hannah ein völlig anderes Bild von der Mutter, die angeblich als Fotografin erfolgreich war. Nichts konnte der Vater von der Kleidung oder auch den Fotografien der Mutter entsorgen. Ohne Probleme kann sich Hannah in ihre Mutter mit Perücke verwandeln. Was sie jedoch über das reale Leben der Mutter erfährt, führt für die Tochter zu neuen Alkoholexzessen.

Psychologisch genau und in immer neuen Wendungen, immerhin wird deutlich, dass Reece und Hannah Halbgeschwister sind und zwei verschiedene fremde biologische Väter haben, steigert sich die Spannung enorm bis zur Auflösung der überraschenden Täterschaft.
Lizz Webb hat für ihren beachtlichen Debütroman literarische Figuren gewählt, die ambivalent sind, widersprüchlich in ihren Handlungen und gewillt, bis ans bittere Ende zu gehen. Jeder verbirgt seine Geheimnisse, Erinnerungen trügen, und die Wahrheit ist für alle schwer zu verkraften.