Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela, Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy, Hanser Berlin Verlag, Berlin 2024, 240 Seiten, €24,00, 978-3-446-27727-4

„Ich begann einige Veränderungen zu bemerken, auch wenn sie allen anderen sicher entgingen. Je länger ich schwieg, desto stärker wurde meine Anwesenheit, desto genauer meine Umrisse, desto ausdrucksvoller meine Mimik. …. Notiert das in euren Dokumenten …. „

Estela García arbeitet ab ihrem dreiunddreißigsten Lebensjahr als Hausmädchen in einer angesehenen Familie eines Arztes in Santiago. Sie stammt von einer kleinen Insel und dort lebt auch noch ihre Mutter. Sieben Jahre wird sie ihrer Arbeit nachgehen und auch sieben Jahre in einem Verschlag hinter der Küche hausen. Für Dona Mara López ist Estela so gut wie unsichtbar, niemand sieht sie richtig an, obwohl sie alle wichtigen Arbeiten erledigen muss. Zu Estelas Aufgabenbereich gehört auch die Betreuung des Kindes, das kurz nach ihrer Anstellung geboren wird. Sehr schnell geht Dona Mara jedoch wieder arbeiten.
Alia Trabucco Zerán erzählt aus der Sicht von Estela und es scheint so zu sein, als würde die nun Vierzigjährige sich in einem abgeschlossenen Raum erklären müssen. Sie spricht Personen an und bittet diese, ihr zuzuhören. Sie ist die stumme Beobachterin in dem Haushalt und sie erwähnt früh, dass Julia, das Kind der Familie, mit sieben Jahren gestorben ist.
Die gleiche Gefühllosigkeit, die die Familie Estela entgegenbringt, gewöhnt sie sich auch im Umgang bei ihrer Arbeit an. Die Familie hält sie offensichtlich für einfach und kaum gebildet, aber das stimmt nicht, denn Estela drückt sich in ihren Erzählungen und Rückblicken sprachlich eloquent aus. Estela hört durch ihre Anwesenheit im Haus alles, die Streitereien, die Intimitäten, die Lügen.
Auf das Kind projizieren die Eltern all ihre Wünsche, schicken Julia bereits mit drei Jahren auf eine englische Schule und organisieren für sie eine Nachhilfe ab dem sechsten Lebensjahr. Doch das angeblich hochbegabte Kind ist einsam und extrem störrisch, was sich insbesondere während der Mahlzeiten zeigt. Um wirklich ein bisschen Gesellschaft zu haben, kümmert sich Estela um einen streunenden Hund, den sie auch mit in die Wohnung nimmt. Natürlich ist ihr das verboten, aber Estelas Sehnsucht nach Nähe ist zu groß. Zumal auch ihre Mutter verstorben ist. Allerdings hatte niemand Estela von dem ernsten Krankheitszustand der Mutter informiert. Doch was ist nun mit dem Kind der Familie passiert und welche Rolle spielt dabei Estela?

Die chilenische Autorin Alia Trabucco Zerán schafft es geschickt, durch ihren dramatischen Spannungsbogen Interesse zu wecken. Und sie schaut tief in die chilenische Gesellschaft hinein und zeigt die Abgründe oder auch Erfordernisse, die von einer gehobenen Schicht erwartet werden. Der Mensch an sich spielt dabei keine besondere Rolle, seine Arbeitsfähigkeit schon.
Alia Trabucco Zerán ist durch ihre literarische Arbeit aufgefallen und wurde 2022 in Berlin mit dem
Anna Seghers – Preis ausgezeichnet.