Alex Wheatle: Home Girl, Aus dem Englischen von Conny Lösch, Verlag Antje Kunstmann, München 2020, 253 Seiten, €18,00, 978-3-95614-355-7

„Ich hatte mein Kuschelerdmännchen nicht dabei, aber ich wollte das, was Colleen, Tony und Louise hatten. Ein echtes Zuhause mit viel Liebe drin.“

Wenn die vierzehnjährige Naomi Brisset etwas will, dann redet sie nicht lang herum, sondern fordert es in einem frechen wie respektlosen Ton. Sie weiß, dass sie sich durchsetzen muss und niemand ihr etwas schenkt. Natürlich sind alle Pflegefamilien nur auf das Geld aus und die Väter alle pädophil. Freundin Kim hat schon recht, wenn sie behauptet, dass die Sozialarbeiterinnen viel Geld verdienen und ordentlich für ihre Klienten arbeiten sollten. Dabei verfügt Louise, Naomis Betreuerin, sicher über kein dickes Bankkonto. Naomi kann die Betten schon gar nicht mehr zählen, in denen sie bei fremden Leuten im englischen Ashburton geschlafen hat. Ins Heim möchte sie jedoch auch nicht zurück. Am liebsten wäre es Naomi, wenn sie eine eigene Wohnung bekäme. Immerhin hat sie sich um ihren Vater gekümmert, nachdem ihre depressive Mutter sich vor vier Jahren umgebracht hat. Allerdings ist, niemand weiß, wo er sich aufhält, Naomis Vater ein gewohnheitsmäßiger Trinker. Um an Lebensmittel und Alkohol zu gelangen, hat er mit Naomi in Geschäften geklaut.
Zur Schule geht das Mädchen in einer Sondereinrichtung und wenn sie den Mund öffnet, dann wird klar, dass sie nicht viel gelernt hat. An der Tagesordnung sind an Naomis Schule doch eher Gewaltausbrüche als Unterrichtstunden mit Substanz.

Louise will nun, dass Naomi vorübergehend bei der schwarzen Familie Golding wohnt. Für Naomi kein Problem, so lange sie in ihrem Zimmer einen Fernseher und einen DVD-Player vorfindet und Tony Golding unten bleibt, wenn sie oben im Haus duscht. Zu den Goldings gehören noch zwei adoptierte schwarze Kinder, Sharyna und Pablo. Beide sind jünger als Naomi und somit fühlt sie sich manchmal wie eine ältere Schwester. Als sie ihnen jedoch einen absolut gruseligen Horrorfilm zumutet, gibt es erste Streitereien mit Tony. Colleen kann etwas schlichten, aber Naomi versteht die Aufregung nicht, denn für sie sind diese Art Filme ihr Unterhaltungsprogramm seit Kindertagen.

Naomi ist keine Sympathieträgerin, sie ist vulgär, laut und vor allem distanzlos. All ihre Gedanken kreisen um Sex zwischen Erwachsenen und auch Jugendlichen in einer unerträglichen Fäkalsprache. So ist eine der ersten Fragen, die sie an ihre neue Pflegemutter stellt, ob der Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann nicht wehtun würde. Colleen bleibt erstaunlich ruhig und versucht mit dem Kind, dass offenbar trotz Kuscheltier Erdmännchen keines mehr ist, über Liebe zu sprechen. Andererseits plagen Naomi die Erinnerungen an das blutüberströmte Bad, in dem ihre Mutter gefunden wurde und die Sehnsucht nach ihrem Vater. Ab und zu besucht Naomi ihre Nan, ihre Urgroßmutter, die allerdings an Demenz leidet.

Colleen und Tony finden über Gespräche langsam Kontakt zu ihrer Pflegetochter. Auch Colleen kennt das Leben im Heim. Louise stellt Naomi dann Susan Hamilton vor, eine wohlhabende Frau mit Architekten-Ehemann, die in sozialen Einrichtungen gearbeitet hat. Leider geht das Wochenende bei Susan völlig schief, denn sie kann Naomi nicht so nehmen wie ist. Sie versucht ihr einzureden, dass alle beruflichen Türen für sie offen stünden. Dabei möchte Naomi nur tanzen und bei niemandem wohnen, der etwas von ihr fordert.

Als Ich-Erzählerin lässt Naomi den Leser nah an sich heran. Er versteht, dass sie Erwachsenen nicht mehr trauen kann und nur auf ihre lesbische Freundin Kim hört, die wiederum mit ihrer eifersüchtigen Freundin Auseinandersetzungen hat. Dass Naomi in einer Familie leben soll, die nicht schwarz ist, kann Louise nicht genau begründen. Als Naomi sich Zöpfe wie schwarze Mädchen flechten lässt, entbrennt in der Schule eine eklatante Wuttirade eines schwarzen Mädchens gegen Naomi.
Auch in Tonys Familie kocht ein Konflikt erneut hoch. Tonys Vater hatte nach seiner Ankunft in Großbritannien genau zu spüren bekommen, dass er als Farbiger für die Mehrheitsgesellschaft minderwertig ist. Für ihn hat sich nach dieser tiefen Demütigung die Welt nicht weitergedreht. Er ist nach wie vor der Meinung, dass eine Weiße immer ein besseres Leben hätte als er, auch Naomi. Als Naomi den Freundinnen von Tonys Vater und seinen Ansichten erzählt, ist allen klar, wer der Rassist ist. Naomi kann nicht mehr bei den Goldings bleiben.

Alex Wheatle reißt viele soziale und ethnisch relevante Themen an, die in der englischen Gesellschaft offensichtlich von Bedeutung sind. Es ist eine Gradwanderung, auf die sich der Autor mit seiner tempo- und dialogreichen Handlung begibt, die zwar hoffnungsfroh endet, aber bei allen Erfahrungen nicht realistisch ist.