Marah Woolf: Rückkehr der Engel, Piper Verlag, München 2020, 371 S., €12,00, 978-3-492-70601-8

„So trennen uns nur noch drei Mädchen vom Untergang der Welt. Die Engel werden uns alle töten, damit wir ihnen nicht ins Paradies folgen. Dieses vollkommene Reich, in dem es keine Schmerzen, kein Elend, keine Not und keinen Neid gibt, wollen sie nur für sich.“

Marah Woolf hat sich für ihre mehrteilige Angelussaga die Engelscharen als Aggressoren und Besetzer, als Zerstörer der modernen Welt und brutale Unterdrücker der menschlichen Zivilisation ausgesucht. Mit ihrer Ankunft auf der Erde vor drei Jahren wird die Menschheit zurück ins Mittelalter katapultiert. Die Engel fühlen sich der Menschheit, auch sie ein Geschöpf Gottes, überlegen, denn sie können fliegen und stehen somit über ihnen. Furcht empfinden sie nur vor der Dunkelheit und so erstrahlen ihre Himmelspaläste immer in hellem Licht.
Das Bild des Engels, ob strahlend wie überirdisch schön oder gefallen und gezeichnet, stellt die Autorin auf den Kopf. Michael, Luzifer oder Cassiel nutzen ihrer Kräfte, um zu zerstören. Erzengel Michael höchstpersönlich hat den Papst erschlagen und alle Engel schrecken kaum vor weiteren Greueltaten zurück. Angesiedelt ist die Geschichte in Venedig, einem besonders anmutigen, wie auch dekadenten Ort.

Die achtzehnjährige Moon ist die Ich-Erzählerin. Sie verdingt sich als Gladiatorin, um für ihre Geschwister, die stumme Zwillingsschwester Star und den zwölfjährigen Bruder Tizian das nötige Geld für die Schmuggler zusammenzubekommen, um endlich aus der Stadt zu fliehen. Ihre Mutter, einst Mitglied im Conciglio, hat die Familie verlassen. Zuvor jedoch trainierte sie mit Moon und bildet sie als Kämpferin aus. Der Vater, ein angesehener Arzt, wurde von den Engeln getötet. Alessio, sein Student, ist mit Moon befreundet, hat sie sogar entjungfert, um einem möglichen Übergriff zuvorzukommen.
Moon fällt immer wieder mit ihrer großen Klappe auf. Sie nimmt keinen Blatt vor den Mund, wenn Nero, der Vorsitzende des Conciglio, sie um ihren verdienten Kämpferlohn betrügt. Klar wird, dass sich bestimmte machtgierige Personen den Engeln andienen und trotzdem in Gefahr sind. Sich wegducken wäre die richtige Taktik, um zu überleben, aber Moon kann ihr Temperament nicht zügeln.
Alle wissen, dass die Engel auf der Suche nach den 19 Schlüsselträgerinnen sind, Mädchen im Alter von achtzehn Jahren. Mit deren ganz speziellen Fähigkeiten können die Engel das Himmelstor öffnen und für immer ins Paradies eintreten. Natürlich befürchtet Moon, dass Star eines dieser Mädchen sein könnte. Als die Widerstandsbewegung den Dom in die Luft sprengt und Engel Cassiel verletzt wird, überwindet Moon ihren inneren Hass und schleppt ihn nach Hause. Cassiel darf nicht sterben, denn sollte dies geschehen, würden die Engel sie dafür verantwortlich machen. Cassiel überlebt und Moon beginnt sich in ihn zu verlieben. Seine Strategie, sie zu umgarnen, ist mehr als perfekt. Da er ihr im Kampf bereits zwei Mal das Leben gerettet hatte, fühlte sich Moon ihm verpflichtet. Wie bösartig, ehrgeizig und hinterlistig dieser Engel ist, wird sich am Ende des ersten Bandes herausstellen, denn Cassiel ist wohl einer der perfidesten Schlüsseljäger.

Marah Woolf spielt in ihrer Angelussaga mit unterschiedlichen Legenden, Mythen und Bibelzitaten rund um die Welt der Engel und verquickt alles in einer unterhaltsamen, gut lesbaren Fantasygeschichte. Durch den Humor der Hauptfigur, ihren Mut und ihre Menschlichkeit ist sie die moralische Instanz. Als sie im Kampf mehr Geld einnimmt als je erwartet, gibt sie dieses auch mit Gewissensbissen ihrer Familie gegenüber für eine völlig fremde Frau aus, die im Kampf stark verletzt wurde. Die Engel schmunzeln nur darüber und denken sich ihren Teil. Sie sind weder naiv, noch gutherzig, noch menschlich. Als Cassiel plötzlich diese milden Töne aus angeblicher Dankbarkeit anschlägt, geht auch die Leserin, nicht nur Moon, dem Engel auf den Leim.

Mit der einzigartigen Architektur von Venedig im Hintergrund kann die Autorin sicher nicht viel falsch machen, zumal die Stadt bereits eine wichtige Hauptfigur ist. Ab und zu kippt die Geschichte sprachlich in den Alltagsslang Moons, die sich locker und cool geben will. Konfliktpotenziale birgt diese Geschichte rund um den Untergang der Welt in vielerlei Hinsicht, ob es nun um die Liebe, die Beziehungen zu den Geschwistern oder den Erhalt des eigenen Lebens geht.
Im übertragenen Sinn kann man die Angelussaga auch als Befreiungsgeschichte vom Joch der überirdischen Unterdrückung lesen, nur sind die Engel einfach zu starke Gegner, um sie wirklich schnell abzuschütteln.

Zwei weitere Teile sind erschienen, um zu erfahren, wie es mit Moon und ihrer Familie weitergeht.