Katrin Seddig: Eine Nacht und alles, Rowohlt Verlag Berlin, Berlin 2015, 432 Seiten, €19,95, 978-3-87134-785-6

„Wenn ihr Valentin verlorengeht, und es könnte sein, dass er sich in Zukunft nicht mehr zufriedengibt mit dem, was sie ihm an verlogener Beziehung, Halbbeziehung, Affäre bieten kann, dann hat sie nichts mehr. Dann ist sie komplett dem sogenannten Alltag ausgeliefert. Mittelmaß in jeder Hinsicht.“

Als Irene Molander an diesem einen Morgen aufwacht und keine Ahnung hat, wo der Mann ist, mit dem sie die Nacht verbracht hat, geschweige denn, wie er heißt oder wer er ist, schleicht sie sich förmlich zurück in ihr Zuhause. Und dort erwartet sie Per, ein immer gutgelaunter, vielleicht jetzt im Laufe der Jahr etwas zu fülliger, treuer Ehemann.

„Sie sieht Per immer, er hat sich bildlich in ihr verewigt, sie sieht ihn, wenn er gar nicht da ist. Das ist Partnerschaft. Inwendig und auswendig.“

Irene und Per sitzen beruflich in festen Satteln und sie haben eine siebzehnjährige Tochter, die ihnen abhanden gekommen ist. Esther hat die Schule geschmissen und ist mit ihrem neuen Freund Thomas L., dem „Jesusmann“, in eine Kommune gezogen.
Zu Weihnachten wollte Esther sogar mit ihrem Freund die Eltern besuchen. Immerhin ist die Heizung im Haus defekt. Aber nach einem unglücklich verlaufenden Telefonat, Esther erwartet, dass die Eltern kein Fleisch zu Weihnachten essen, ist der Besuch abgesagt.
Irene fühlt sich ohne Kind an Weihnachten unwohl und beschließt ein paar Pullover, als Esther auszog, hat sie nur die Sommersachen mitgenommen, vorbeizubringen. Per will sich die 500 km lange Fahrt von Hamburg in den kleinen hessischen Ort nicht antun. Er glaubt, dass Irene die Tochter loslassen muss. Und dann meldet sich auch noch der entschwundene One-Night-Stand, der Valentin heißt, und bittet Irene um ein Wiedersehen.
Die Ankunft in Hessen, während der Fahrt gabelt Irene Yasemine mit ihrem Hund auf, entpuppt sich dann als ein Desaster, denn Esther reagiert auf die Mutter und ihre ebenfalls siebzehnjährige Begleiterin äußerst aggressiv.
Der Nachbar von Esther ist ein gewisser Markus Häupl und es stellt sich später heraus, dass Irene und Markus sich kennen. Beide haben, und diese Erinnerungen kehren immer wieder, als zwölfjährige Kinder ein totes Baby im Wald gefunden.
Irene kann ihren Eltern nichts von dem tragischen Fund erzählen, denn diese streiten sich ständig und Markus ist am kommenden Tag für immer fort.

Irene wollte dem Alltagstrott, vielleicht wie viele Leser, entfliehen und gerät nun in einen Strudel von Geschehnissen, die sie mitreißen.

„Ich bin das Problem. Ich kann das Leben einfach nicht genießen. (…) Ich will immer da sein, wo ich nicht bin, und will immer das haben, was ich nicht habe. Ich bin undankbar und ich bin unersättlich, (…) ich bin eine komplett unfähige Frau, unfähig, glücklich zu sein, unfähig, auch nur zufrieden zu sein, ich bin wie ein Hund, der die ganze Zeit an der Leine zieht, und ich weiß gar nicht, warum und wohin. „

Irene kümmert sich um die mutterlose Yasemine, kehrt nach Hamburg zurück und gleich wieder zu Esther zu fahren, die sie flehentlich darum bittet. Esther ist schwanger.
An Per perlt vieles ab, er findet alles gut, was andere, die ihm nahe stehen entscheiden und das bringt Irene auf die Palme. Es quält sie, wenn sie sehen muss, wie Esther ihr Leben führt. Als sei Hessen nicht weit genug, will die Tochter nun mit ihrem Lebenspartner nach Island auswandern.
Irene lässt sich immer enger mit Valentin ein, der ihr irgendwann sagt, dass er mit ihr leben will.

Und Irene wird vor die Entscheidung gestellt: Will sie mit Valentin, einem Mann, der offensichtlich Vater geworden ist, in der Nacht als er mit Irene zusammen war, ein neues Leben beginnen oder bleibt alles beim Alten, was genau betrachtet, ja gar nicht so schlecht war?

Genau beobachtet Katrin Seddig ihre Figuren, verrät sie nicht und lässt ihnen den Raum zum Atmen und Entscheiden.