Matthias Jügler: Maifliegenzeit, Penguin Verlag, München 2024, 160 Seiten, €22,00, 978-3-328-60289-7

„Mein Verdacht und all die Zusammenhänge, die ich sah, seien schlicht herbeifantasiert, das war, was mir ein Mitarbeiter des Jugendamtes zu sagen hatte. Zwangsadoption, natürlich, das habe es gegeben – aber einen vorgetäuschten Kindstod? Unter Franco, in Spanien, sicher, aber in der DDR?“

Nach allem, was nach der Wende an Unmenschlichem vom DDR-Regime enthüllt wurde, wundert die Behauptung kaum, dass es offenbar mehr als 2000 Fälle geben soll, wo Eltern ihre Kinder suchen, die ihnen, wie dem Ich-Erzähler Hans in diesem Roman, verfasst nach einer wahren Begebenheit, weggenommen wurden.
Hans liebt das Angeln und die Landschaft rund um die Unstrut im Raum Naumburg. Hier lebt er immer noch im Haus der Eltern als Rentner mit seiner Lebensgefährtin Anne. Nach und nach schildert Matthias Jügler in einem geradezu unheimlich ruhigen Erzählton, was dem als einst als Lehrer arbeitenden Mann widerfahren ist.
Als er 1978 im Studium Katrin kennenlernt, kann er es erst gar nicht fassen, dass sich diese Frau für ihn interessiert. Sie sind fünf Jahre zusammen und als Katrin ihr gemeinsames Kind zur Welt bringt, ist das Glück vollkommen. Doch dann der Schicksalsschlag: Der Säugling ist plötzlich verstorben.
Sie hatten für den Jungen den Namen Daniel ausgesucht. Hans wird das Grab für sein Kind ausheben. Ein Trauma für die Eltern. Doch Katrin zweifelt immer stärker daran, dass ihr Baby tot sein soll. Der Ich-Erzähler beharrt darauf, dass sie doch niemand anlügen würde, gerade bei so einem tragischen Verlust. Doch haben sie das tote Kind überhaupt gesehen?
Die Beziehung zerbricht und Katrin wird 1987 an Krebs versterben.
Matthias Jügler erzählt nicht chronologisch, sondern springt in den Zeiten hin und her. So erinnert sich Hans an Szenen mit seinem Vater beim Angeln, einer Leidenschaft, die auch ihn erfassen wird und die ihm in gewisser Weise auch Trost spenden kann. Die beschauliche Beobachtung der Fische in der Ruhe der Flusslandschaft steht im argen Gegensatz zu den inneren, gewaltigen Stürmen und Verlusten des Ich-Erzählers.
Auch wenn man sich kaum fürs Angeln begeistern kann, vermag es Matthias Jügler, selbst passionierter Angler seit Kindertagen, und neuerdings auch Fischfliegenangler, mit seinen feinen Naturbeschreibungen Interesse zu wecken.
Hans wird nach der Wende nichts unversucht lassen, um Katrins unerhörte Vermutungen zu widerlegen. Doch er stößt nur auf geschwärzte Krankenakten, Ungereimtheiten, skeptische Mitarbeiter des Jugendamtes und keine Chance auf Exhumierung des Kindes.
Doch dann vierzig Jahre später, ruft Daniel bei Hans zu Hause an.
Und so grausam es klingen mag, nichts wird sich so ereignen, wie der Vater, dem sein Kind einfach so weggenommen wurde, sich diese Begegnung mit seinem Sohn vorgestellt hat.

„Mein Kind lebte, das wusste ich. Aber es würde vermutlich nie mein Kind sein können. Mein Blick verschwamm, und ich hätte viel dafür gegeben, einfach zu verschwinden.“

Diesen Roman muss man lesen, denn er berührt zutiefst durch den sanften Erzählton und die unfassbare Ungeheuerlichkeit, von der berichtet wird.

Hinweis auf Matthias Jüglers weiteren Roman auf dieser Website:

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