Ann Napolitano: Hallo, du Schöne, Aus dem Englischen von Werner Löcher – Lawrence, Dumont Verlag, Köln 2024, 510 Seiten, €25,00, 978-3-8321-6945-9

„Eine glückliche Familie hatte sie sich hier vorgestellt, einen erfolgreichen Professor mit einer Karrierefrau und einer perfekten Tochter. Aber diese Zukunft war von Beginn an, ohne dass Julia es gewusst hatte, dem Untergang geweiht gewesen, und während sie die Schränke leerte, war ihr diese Dummheit peinlich.“

William Waters Kindheit in Chicago kann man nur als unglücklich beschreiben. Seine Eltern beklagen, kaum dass ihr Sohn auf der Welt ist, den Tod ihrer dreijährigen Tochter Caroline. Doch nie wird von ihr gesprochen und William wird gnadenlos allein gelassen. Seine Eltern nehmen an nichts Anteil. Sie interessieren sich nicht für Williams Leidenschaft für Basketball, immerhin ist er gute zwei Meter groß, sie werden nicht die Familie seiner Verlobten Julia kennenlernen und sie kommen nicht zu seiner Hochzeit. Sie senden ihm einen Scheck und wünschen ihm alles Gute für die Zukunft. Sie werden ihr Enkelkind nicht kennenlernen. Und sie werden nicht da sein, wenn William seinem Leben eine Ende setzen wollte. Alle Sympathien der Lesenden sind auf Williams Seite, der mit Hilfe eines Stipendiums Geschichte studieren wird und durch seine Sportverletzungen keine Profikarriere beginnen kann. Doch dann lernt der sehr ruhige William die energische Problemlöserin Julia Padavano kennen und gehört bald zur großen Familie, denn Julia hat drei Schwestern.

„Julia war die Organisatorin, Sylvie die Leserin und abgewogene Stimme, Emeline die Näherin, Cecelia die Künstlerin.“

Die Padavanos sind nicht reich, die Mutter Rose muss mitarbeiten, denn ihr Mann Charlie trinkt gern mit seinen Freunden. Doch Charlie ist ein mitfühlender, warmherziger Mensch und begrüßt seine Töchter gern mit den Worten „Hallo, du Schöne“. Rose hatte sich ein anderes Leben gewünscht und sie ist eindeutig unglücklich mit ihrem für sie nichtsnutzigen Mann. Als er dann nach dem Besuch seiner Tochter Cecelia, die gerade ein uneheliches Kind bekommen hat, im Krankenhaus stirbt, konzentriert sich all der Hass der Mutter auf Cecelia und deren Schuld an allem. Als Julia und William heiraten und Julia schwanger ist, beschließt Rose, alles zu verkaufen und in Florida zu leben, als wäre sie für die familiären Dinge nicht mehr zuständig. Aus der Ferne gibt sie noch Anweisungen, aber die Töchter sind nun auf sich gestellt. Emeline und Cecelia sind Zwillinge und immer hält Emeline zu ihrer Schwester. Julia sieht sich in Konkurrenz zu den anderen und Sylvie, die die Mutter durch den Verkauf des Zuhauses auf die Straße gesetzt hat, pendelt nun von Sofa zu Sofa.
Julia jedenfalls puscht ihren Mann, der kaum eine akademische Karriere anstrebt, sondern sich viel wohler in der Sporthalle bei seinem alten Basketballtrainer fühlt. Auch das Vatersein überfordert ihn unendlich. Dass er unter Depressionen leidet, hat niemand diagnostiziert. Und so verlässt er seine empörte Frau und seine Tochter Alice, von einem Tag auf den anderen, in dem Glauben, ihr nicht schaden zu wollen. Und er versucht sich das Leben zu nehmen.

„Seine Eltern hatten niemanden gehabt, der sie retten wollte, und sie konnten ihren Sohn nicht ansehen, ohne an den Verlust ihrer Tochter zu denken. Sie hatten sich von William abgewandt, und er begriff jetzt, dass er Caroline und Alice das Gleiche angetan hatte. Er war um nichts besser als seine Mom und sein Dad.“

Innerhalb der Familien der Waters und der Padavanos wiederholen einige, die fatalen Verhaltensweisen ihrer engsten Angehörigen. Schmerzhaft liest sich das und kaum nachvollziehbar. Doch Menschen agieren nicht rational, fällen Entscheidungen, die sie selbst vielleicht nie für möglich gehalten hätten. Die amerikanische Autorin Ann Napolitano erzählt multiperspektisch und chronologisch, beginnend vom Jahr 1960 und bis in den Beginn des 21. Jahrhunderts hinein. Von Anfang an fesselt Ann Napolitano die Lesenden, denn ihre literarischen Figuren werden lebendig und ambivalent in all ihren Stärken und Schwächen geschildert. Fern aller Interpretationen, die überlässt die Autorin ihren Lesenden, ziehen die Leben der Schwestern am inneren Augen vorbei.
Allerdings verfällt die Autorin nie in eine melancholische Stimmung, sondern reflektiert das Geschehene beinahe nüchtern. Nahezu therapeutisch klingt es, wenn sie aufzeigt, wie glücklich William mit Sylvie werden wird und wie einsam Julia im fernen New York mit ihrer Tochter lebt und dieser nur Lügen über ihren Vater auftischt. Alle wollen alle immer nur schützen und begehen einen Fehler nach dem anderen. Das ist bitter, aber realistisch.