Vigdis Hjorth: Ein falsches Wort, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2024, 400 Seiten, €25,00, 978-3-10-397513-0

„Der Philosoph Arne Johan Vetlesen hat gesagt, die Schwäche der Wahrheitskommissionen, der Versöhnungsprozesse nach Kriegen, sei, dass in der Regel von den Opfern genauso viel verlangt werde wie von den Tätern, dass dies in diesen Dingen eingeschriebene Ungerechtigkeit sei.“

Unter dem Titel „Bergljots Familie“ ist der Roman der 1959 in Norwegen geborenen sehr bekannten Autorin Vigdis Hjorth bereits 2019 erschienen. In einer Überarbeitung der Übersetzung erhofft sich der Verlag sicher mehr Aufmerksamkeit, den die Autorin mit ihrem Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“, ebenfalls bei S.Fischer erschienen, bereits erreichen konnte. Neben heftigen Debatten im Heimatland und einem Eklat in der Familie steht die norwegische Autorin zu ihrer „Selbstentblößungsliteratur“.
Die Ich – Erzählerin Bergljot hat seit gut fünfzehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern und auch nicht zu den drei Geschwistern. Allerdings telefoniert sie in zeitlich langen Abständen mit ihrer Schwester Astrid. Was zwischen ihnen steht und der Grund für die radikale Trennung ist, bleibt vorerst im Dunkeln des Familiendramas. Bergljot hat nach schneller Heirat und drei Kindern die Beziehung zu den Eltern noch nicht unterbrochen, denn sie wollte die Enkelkinder den Großeltern nicht entfremden. Doch nach einiger Zeit konnte sie die Besuche bei den Eltern im großen Haus nicht mehr ertragen. Als Erwachsene besuchen die Kinder die Großeltern immer am 23. Dezember. Doch dann stirbt der Vater vor fünf Monaten. Durch die Erinnerungen, denen sich die Erzählerin hingibt, setzt sich langsam ein Bild von den Persönlichkeiten der Eltern zusammen. Hat die Mutter ihre Ängstlichkeit seltsamerweise nur auf Bergljot übertragen, so ist der Vater eher ein despotischer, in späteren Jahren eher schweigsamer, wie grummeliger und unnahbarer Mann. Auch wenn Bergljot für sich den Bruch mit der Familie, auch durch die Unterstützungen einer Therapie, vollzogen hat, bestimmt dieser ihr bisheriges Leben immer noch. Ihr derzeitiger Freund kann das Thema nicht mehr ertragen, Freundinnen werden nicht müde sich alles anzuhören. Als Zeitschriftenredakteurin und Theaterkritikerin fest im Arbeitsleben stehend, im Gegensatz zu ihrer Mutter, die finanziell immer vom Vater abhängig war, hat Bergljot erst als Mutter von drei Kindern nach ihrer Scheidung verstanden, was wirklich mit ihr im Alter zwischen fünf und sieben Jahren geschehen ist. Die sexuellen Übergriffe des Vaters wurden von der Mutter immer als Lügen bezeichnet, als Fantasiegespinste, als Ideen einer Psychopathin, wie es der Vater formulierte. Auch die jüngeren Schwestern Astrid und Åsa wollte nie hören, was damals geschehen ist. Der ältere Bruder Bård hingegen offenbart bei der Zusammenkunft der Familie, dass der Vater ihn bis zur Besinnungslosigkeit geschlagen hat. Auch das stößt auf taube Ohren.
Der rote Faden jedoch, der sich durch die Handlung zieht, thematisiert die Erbschaft, die die vier Kinder nach dem Tod des Vaters antreten sollen. Von den Eltern gemeinsam ausgemacht wurde, dass die Töchter Astrid und Åsa die Hütten auf Hvaler mit Blick aufs Meer bekommen sollen. Den beiden anderen Kinder wird der Wert der Hütten jeweils ausgezahlt. Allerdings wurden die Hütten mit einem extrem niedrigen Schätzpreis angesetzt. Bård fühlt sich erneut zurückgesetzt und um sein Erbe betrogen. Er versucht nun, Bergljot auf seine Seite zu ziehen. Er möchte, dass alle vier Geschwister sich die zwei Hütten teilen. Die Schwestern, die sich um die hochbetagten Eltern angeblich mehr gekümmert hatten und dafür auch finanzielle Zuwendungen einheimsten, plädieren dafür, dass es die Entscheidung der Eltern bleibt, was mit ihrem Vermögen angestellt wird. Durch die Ich-Perspektive und gleichzeitigen Opferperspektive neigen die Lesenden dazu, sich auf die Seite der Erzählerin zu stellen. Doch was ist wahr und wo täuschen die Erinnerungen? Immer wieder wird auch berichtet, dass Bergjlot um sich zu beruhigen, sehr viel Alkohol konsumiert und sich so auch in vieles hineinsteigert.
Die Tatsache, dass die Mutter immer wieder alles verharmlost und Weihnachten, wie auch andere Feste als „normale“ Familie feiern will, verärgern die Erzählerin maßlos. Durch die Erbstreitigkeiten mit Anwälten auf beiden Seiten kocht in Bergjlot der innere Konflikt wieder hoch.
Versucht Astrid die Wogen durch Telefonate und E-Mails zu glätten, terrorisiert die Mutter die Familie mit ihren angekündigten Suizidversuchen. Sie generiert sich als schwache Person, die Aufmerksamkeit benötigt, ist aber gar nicht so zerbrechlich. Den eigenen Ausbruch aus der Ehe hat sie nicht geschafft und sich der Gewaltherrschaft des Ehemannes untergeordnet.
Keine Entschuldigung, kein Eingeständnis wird die Erzählerin hören. Immer wird es einen doppelten Boden geben, wenn die Mutter etwas sagt. Die Familienkonflikte werden Bergljot auffressen, gnadenlos, denn sie kann sie nicht beenden.
Eine dysfunktionale Familie, ein gekonnt literarisch aufbereiteter Einblick in Familiendynamiken und die Wahrung des äußeren Scheins mit allen Mitteln als Überlebensstrategie, davon erzählt Vigdis Hjorth meisterlich.