Tom Saller: Ein neues Blau, List Verlag im Ullstein Buchverlag, Berlin 2019, 414 Seiten, €20,00, 978-3-471-36004-0

„Eine Schale. Nicht groß, nicht klein. Weiß, mit einer einzigen blauen Blüte geschmückt. Eine Schale aus Porzellan. Aufgeladen in der Zeit, immerwährendes Gedächtnis.“

Mitten im gutbürgerlichen Berlin-Charlottenburg wohnen 1985 Lili Kuhn, eine alte Dame in Trauer mit japanischem Teehaus und Garten und die von ihren Eltern ziemlich genervte Anja Hermann. Ihr Vertrauenslehrer hat ihr den Job bei Fräulein Kuhn als „Gesellschafterin“ angeboten. Anja geht aufs Sophie-Charlotte-Gymnasium, das früher Fürstin Bismarck Lyzeum hieß und von Lili einst besucht wurde.
In einem weiten Bogen wird nun Lili der jungen Frau aus ihrem Leben ab dem Jahr 1919 erzählen. Es wird um Verluste gehen, um neue Erkenntnisse und tiefe Freundschaften, aber auch um vermeintliche Schuldzuweisungen, schicksalhafte Geschehnisse und Ängste.
Lili Kuhns Vater, eigentlich hieß er Jakob Cohen, war Jude und ist mit vierzehn bereits aus seiner Württembergischen Heimat nach Berlin geflohen. Als Händler für Tee hat er auf seinen Reisen durch China und Japan viel gelernt und auch seinen Wohlstand begründet. Als er sich in Charlotte verliebte, schien alles perfekt, Lili kam und der Handel boomte. Doch die Spanische Grippe tötete seine Frau und nahm ihm auch beinahe sein Kind. Als Beschützer von Stunde an sollte der Japaner Thakeshi, ein Freund von Jakob, sich auch um die Tochter in Berlin kümmern. Lilis Vater möchte, dass Lili in der jüdischen Gemeinschaft ein Zuhause findet.

„Wichtig ist, sie wird Teil einer Gemeinschaft. Die sie bewahrt. Vor Einsamkeit und Alleinsein. Die ein Netz bildet, welches sie auffängt, für den schrecklichen Fall, er ginge ihr ebenso verloren wie Charlotte.“

Lilis Erzählungen werden immer wieder von der Gegenwart unterbrochen. Diesmal stehen Anja und ihre Probleme mit den Eltern im Mittelpunkt. Das Mädchen ritzt sich und zum 18.Geburtstag verletzt sie sich absichtlich mit einer Porzellanscherbe an der Hand. Anja kann nicht wissen, dass der seltsame Therapeut im Pullunder, den sie nach ihrem angeblichen Suizidversuch kontaktiert, der Sohn von Lili ist.
Lili jedenfalls lernt von Takeshi nicht nur die japanische Teezeremonie kennen, sondern auch wie man japanische Schriftzeichen zu Papier bringt. Tee, Kalligrafie, Porzellan, ein Bild von Paul Klee und eine wertvolle Porzellanschale mit blauer Blume werden Lilis Leben bestimmen. Im Tiergarten lernt Lili per Zufall und durch Hund, der einfach nur Hund heißt, Alice von Pechmann kennen. Ihr Mann ist der Erste Direktor der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin. Diese Verbindung führt dazu, dass Lili zuerst als Kindermädchen arbeiten wird, aber dann durch den Kontakt zur Manufaktur ihren Berufswunsch Porzellanmalerin entdeckt. Auf der Burg Giebichenstein in der Nähe von Halle beginnt sie ihre Ausbildung, die sie später das Handwerk Porzellangestaltung erlernen. Hell und zukunftsfroh schaut Lili aufs Leben als in kürzester Zeit ein Schicksalsschlag nach dem anderen sie ereilen wird. Nach einem längeren Aufenthalt in den USA, sie konnte als Halbjüdin 1938 Deutschland über einen Deal verlassen, kehrt Lili jedoch nach Berlin zurück. Am Ende wird sie Anja das Wertvollste schenken, was sie besitzt und es wird seinen Grund haben.

Vieles an dieser Romanhandlung liest sich spannend und überzeugt, allerdings neigt der Autor leider zu profanen Sätzen und Plattitüden. Die Handlung zerfasert auch an bestimmten Stellen, wo Erklärtexte über das Bauhaus, Geheimlehren,Teezeremonien, die Porzellanherstellung, gesellschaftlich-politische Hintergründe oder Freuds Theorien eingebaut sind.
Unschlüssig ist auch der Aufstieg des Jakob Cohen zum reichen Händler. Sicher mag es das gegeben haben, z.B. denke ich an Heinrich Schliemann. Aber Schliemann kam aus einem bildungsnahen Umfeld, Jakob Cohens Eltern konnten dem Vierzehnjährigen nichts mitgeben und wollten es auch nicht. Die Szenen mit Vater Jakob, japanischem Freund und sensibler Tochter wirken eher leicht märchenhaft abgehoben und unglaubwürdig.
Es bleibt die Frage, die sich Lili als Jugendliche und auch Anja stellen, wer bin ich? Was sind Menschen, halbe Christen, halbe Juden, Japaner oder Chinesen, Protestanten oder einfach nur Atheisten?