Annika Reich: Männer sterben bei uns nicht, Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023, 205 Seiten, €23,00, 978-3-446-27587-4

„Sie hatte mir zu verstehen gegeben, dass Vergangenheitsbewältigung etwas für die Schwachen, die Armen, die Mutlosen war. Vergangenes war vergangen, beschäftigte man sich damit, machte man sich zum Opfer. Es galt, unter allen Umständen die Form zu wahren oder den Schein. … So war das bei uns, so unerträglich selbstherrlich. Und jetzt war ich die Erbin – auch dieser Geschichte.“

Die Patriarchin, die Großmutter, die von der Ich – Erzählerin Luise innigst geliebt wurde, ist gestorben. Wie ein roter Faden zieht sich das Ereignis der Beerdigung durch die Handlung, in der sich Erinnerungen, Rückblenden wie ausgewählte Szenen aneinanderreihen, von denen Luise aber eigentlich nicht so genau weiß, ob sie wirklich so stattgefunden haben. Nur Leni, die ältere Schwester, hat Louise immer geglaubt. Doch Leni wurde ins Internat geschickt, ohne die Schwester zu informieren und sie durfte nie zur Familie zurückkehren. Groß ist das Familienanwesen mit fünf Häusern und einem Garten an einem See. Hier jedoch wird nur das Familienmitglied geduldet, dass sich der Herrschaft der Großmutter, die allerhöchste Ansprüche dank ihres erlesenen Geschmacks stellte und auch „Thatcher am See“ genannt wurde, unterordnet. Luises Vater gehörte nicht dazu und ging nach Australien.

„Meine Großmutter ertrug Männer im realen Leben nicht, aber sie stellte nie in Frage, dass Männer die angenehmeren Zeitgenossen waren.“

Der Großvater, der auch noch mit Großmutter Vera, der Mutter von Luises Mutter ein kurzzeitiges Verhältnis hatte, lebte nicht bei der Großmutter, durfte ihr aber ein Schmuckstück nach dem anderen senden. Geld scheint keine Rolle zu spielen, aber um dazuzugehören, durfte man nicht die falschen Fragen stellen und das lernt Luise ziemlich schnell. Sie wusste auch, dass ihre Freundin Ruth von der Großmutter nur von oben herab behandelt wurde, auch sie entsprach kaum ihren unerreichbaren Erwartungen. Luise dagegen wurde immer aufs Podest gehoben, wenn sie sich anpasste und funktionierte. Den Zwang in ein ungeliebtes Leben gepresst zu sein, kann Luises Mutter erst nach dem Tod der Schwiegermutter beenden. Luise, beim Tod der Großmutter, dreißig Jahre alt, soll nun das Erbe antreten und kann sich nicht so richtig an den Gedanken gewöhnen. Immerhin erzählt ihr nun die alkoholkranke Vera so einiges, worüber nicht gesprochen werden durfte. Doch was wurde alles verschwiegen? Durch Leni lernt Luise Adelheid kennen, eine Schwester der Großmutter, von der sie nie etwas gehört hatte. Sie wusste nur, dass Alice, die jüngere Schwester, im Eis eingebrochen war und verstarb. Schuldig fühlte sich die Großmutter ihr Leben lang. Und dann sind da noch diese traumatischen Erlebnisse Luises, die mit zehn Jahren zwei Mal am Bootshaus tote Frauen finden wird, die sich möglicherweise das Leben genommen haben. Welchen Gefühlen darf man nachgeben, welche Gefühle müssen unterdrückt werden?

Wie haben Frauen zu sein? Welche Muster werden uns durch Erziehung aufgezwungen und wie schwer ist es, diese abzulegen? Welche Erwartungen haben wir an uns selbst als Mutter und wie können wir mit Schuldfragen und eigener Scham umgehen?

Annika Reichs Roman spielt mit magisch-realistischen Anklängen und lässt so vieles auch verrätselt offen, dass sich die Lesenden selbst zu enden denken dürfen und vielleicht auch nicht verstehen.