James Wood: Upstate, Aus dem Englischen von Tanja Handels, Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 299 Seiten, €22,00, 978-3-498-07406-7

„Er sah seinen beiden hochintelligenten, erwachsenen Töchtern dabei zu, wie sie einander näherkamen und sich wieder abstießen, wie Magnete mit wechselnden Polen: Helen scheinbar selbstsicherer, schlagfertiger, mit ihren leicht spitzen Zähnen, elegant und attraktiv, aber auch irgendwie bitter, als wäre sie eine notwendige Arznei, die Vanessa unbedingt einnehmen musste; Vanessa stiller, weicher, mit ihrem langen dunklen Haar und dem leicht verkniffenen Blick, dabei aber genau, präzise in jedem einzelnen Wort und Gedanken ….“

Helen und Vanessa sind die Töchter des 68-jährigen Alan Querry, einem einst erfolgreichen Bauunternehmers aus Northumberland, der jetzt finanziell in eine wahre Schieflage geraten ist. Eigentlich müsste er seiner alten Mutter sagen, dass sie nicht mehr im teuren Altenheim leben kann und zu ihm ziehen muss. Aber seine junge, dynamische neue Frau würde damit kaum klarkommen, zumal sie auch zu den Töchter von Alan ein schlechtes Verhältnis hat. Alans erste bereits verstorbene Frau, hatte sich von ihm getrennt, da waren die Töchter gerade mal Teenager. Ins Erwachsenenleben hatte der Vater die Töchter geführt. Helen ist eine erfolgreiche Managerin in einem Musikunternehmen und Vanessa Philosophieprofessorin in den USA, in Saratoga Springs im Bundesstaat New York, Upstate. 

Als Vanessas Freund Josh eine Mail an Helen schickt, wird klar, dass Van wieder unter einem depressiven Schub leidet. Hat sich Van wirklich eine Treppe hinabgestürzt oder war es ein Unfall? Alan sorgt sich und beschließt zum ersten Mal seine ältere Tochter, die nun bereits 40 Jahre alt ist, in den USA zu besuchen. Früher hatte die Tochter den Vater in England in den Ferien aufgesucht. Helen, um die er sich fast nie so große Sorgen gemacht hat, begleitet ihn, da sie sowieso beruflich in New York ist. Eine Woche hat die jüngere Tochter Zeit, denn sie möchte zurück zu ihren kleinen Söhnen und ihrem Mann, der nicht gerade sehr häuslich ist.

James Wood, der selbst als Literaturkritiker gearbeitet hat, schaut in seinen Figuren tief in die Seelen. Er wechselt die Perspektiven und erzählt mal aus Alans Blickrichtung, dann erfährt der Leser, was Helen denkt und dann wiederum wie es Vanessa wirklich geht. Alan erinnert sich zusätzlich an vieles aus der Kindheit der Mädchen, er reflektiert über seine Eltern, seine Frau und seine persönliche desaströse Lage momentan.
Alan beobachtet den neuen Freund und offenbar die große Liebe seiner Tochter Vanessa eher mit Skepsis. Josh ist sieben Jahre älter, arbeitet frei als Wirtschaftsjournalist und scheint im Haus kaum Spuren zu hinterlassen. Vanessa scheint sehr an ihm zu hängen und möchte gern mit Josh nach England zurückkehren. Doch dieser scheint ganz andere Pläne zu verfolgen, wie Helen feinfühlig erkannt hat. Als Helen dem Vater offenbart, dass sie nicht länger reisen und bei ihrem aktuellen Arbeitgeber nicht bleiben will, beginnt die nächste Sorge. Helen will sich selbstständig machen, da die Musikbranche im Umbruch begriffen ist. Die Handlung spielt im Jahr 2007, Barack Obama wird als Präsidentenkandidat aufgestellt, alle sind hoffnungsfroh und weiß doch jeder, welche Krise demnächst zuschlagen wird. Helen rechnet nicht direkt mit der finanziellen Hilfe des Vaters. Als dieser ihr seine wahre Lage offenbart, zeigt sich, dass Helen zugunsten Vanessas immer zurückstecken musste.
Aber auch in Vanessas Leben bahnt sich eine Veränderung an. Josh scheint nicht der stabile Partner zu sein, den sie bräuchte. Alan ahnt das.

Nicht viel passiert in diesem Roman und doch blickt der Leser wie in einem Kammerspiel genau ins Innenleben der trotzdem immer noch wohlsituierten dysfunktionalen Kleinfamilie. Ohne zu psychologisieren, umkreist James Wood alle Probleme: Abstiegsängste, Gesundheitsprobleme und Trennungen. Warum neigt die eine Tochter zu Depressionen, die vielleicht durch die frühe Scheidung der Eltern verursacht wurde, warum ist die andere so kraftvoll, impulsiv und lebenspraktisch?
Ein kluger Roman!