Nicci French: Was sie nicht wusste, Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller, C.Bertelsmann, München 2020, 445 Seiten, €16,00, 978-3-570-10377-7

„Wenn die Polizei keine Anhaltspunkte hatte, dann lag das daran, dass wichtiges Beweismaterial von ihr – und einer anderen Person – entfernt worden war. Zurückbringen konnte sie es nun nicht mehr, aber sie musste zumindest herausfinden, was es damit auf sich hatte.“

Die lebensfrohe und kontaktfreudige Neve Conolly lebt mit ihrem introvertierten Mann Fletcher und den drei Kindern Rory, Connor und Mabel in einem Haus in London. Seit fast zwanzig Jahren ist sie nun verheiratet, ihr kleiner Betrieb, den sie mit ihren einstigen Kommilitonen Gary, Renata und Tamsin geführt hat, wurde von einer größeren Firma kurz vor der Insolvenz geschluckt. Alle vier wurden mit Vorbehalten übernommen. Aber Neve hat nun für sich beschlossen, auch nach all dem Stress mit ihrer ziemlich zornigen Tochter Mabel, die bald auf die Universität geht, nur Teilzeit zu arbeiten. Allerdings könnte diese Entscheidung falsch gewesen sein, denn Fletcher, der eigentlich Illustrator ist, verdient kaum Geld. Neve hat gute Freunde, sie werkelt in ihrem Schrebergarten und seit kurzem trifft sie sich sogar mit ihrem Geliebten, dem attraktiven Geschäftsführer Saul Stevenson.
Er gibt der Sechsundvierzigjährigen das Gefühl wieder jung zu sein, mit ihm kann sie den Alltagskram vergessen, auch wenn sie ahnt, dass sie nicht die erste ist, die in seiner kleinen Wohnung ein- und ausgeht.

Detailreich und atmosphärisch dicht beschreiben Nicci Gerrard und Sean French Neves ganz privates Umfeld. Bis hin zu den Spinnweben in der Küche sieht der Leser alles genau vor seinem inneren Auge und er weiß am Ende mehr als Neve selbst. Denn natürlich fällt ihm auf, dass sie ihren Armreif an diesem Vormittag vor lauter Aufregung in der Wohnung von Saul vergessen hat.
Warum? Als Neve nach einer SMS von Saul zu seiner Wohnung fährt, eigentlich sollte er doch auf einem Kongress sein, findet sie dort seinen Leichnam. Jemand hat ihn mit einem Hammer erschlagen. In ihrer Panik reinigt Neve nun jedes Zimmer, in der Angst, dass ihre Affäre ans Tageslicht kommen könnte, ihre Ehe eventuell den Bach hinuntergeht und sie letztendlich auch den mittlerweile guten Kontakt zu ihrer Tochter, die ihren Vater über alles liebt, zerstört.
Als Neve dann endlich feststellt, dass sie ihren Armreif in der Wohnung liegenlassen hat, kehrt sie zurück und muss feststellen, dass dieser und sogar der Hammer verschwunden sind.

Bei den Befragungen durch DCI Alastair Hitching, einem in sich ruhenden, aber doch tief in die Seele seiner Befragten schauende Riese, kann Neve einigermaßen die Nerven behalten. Aber sie spürt, dass sie durch ihre Lügen und Verstrickungen in den Fall langsam die Kontrolle über ihr Leben verliert. Sie traut niemandem, sie bespitzelt sogar ihren Mann und macht eine unangenehme Entdeckung.
Alle Fäden, und das ist von dem Autorenduo wirklich geschickt konstruiert, fließen bei Neve zusammen. Die kühle Ehefrau von Saul nimmt Kontakt zu Neve auf, Renata beichtet Neve ihre Affäre mit Saul, Mabel selbst hat die Mutter bei ihrer Affäre beobachtet, Gary muss gestehen, dass seine Frau ihn mit seinen Schulden hat sitzenlassen, und dann tauchen auch noch zwei Kommilitonen aus der Vergangenheit auf und quartieren sich in Neves Haus ein.
Je mehr Neve über Sauls tragisches Ende nachdenkt und den Zeitpunkt seiner SMS, um so mehr wird ihr bewusst, dass es nicht ihn, sondern sie treffen sollte. Doch wer steckt hinter dieser brutalen Tat, wem hat sie so auf die Füße getreten, dass jemand sie in allergrößte Schwierigkeiten bringen will?

Das englische Autorenduo holt seine Leser beim gewöhnlichen Alltag mit Kindern, Arbeit und Verpflichtungen ab. Sie spiegeln das Familienchaos, in dem sich Eltern wie Kinder eingerichtet haben und natürlich nutzen sich im Laufe von Ehejahren Beziehungen ab, Routine macht sich breit, Wehmut setzt über das ein, was man nie zustande gebracht hat. Und dann ist da der strahlende Held Saul, der Geschenke macht, wo Geld keine Rolle spielt und alles für Stunden einfach nur konfliktfrei ist. In diese Falle ist Neve getappt und nun soll sie zahlen! Als Neve klar wird, dass nur einer ihrer Freunde und Bekannten, die sich in ihrem Haus aufgehalten haben, der Täter sein kann, beginnt sie selbst in ihrer pragmatischen Art zu ermitteln. Sie kommt dem Verdächtigen auf die Spur und leider zu nah, als er erneut den Hammer in der Hand hält!

Geschickt und psychologisch genau legt das Autorenduo Nicci French falsche Spuren aus, die den Leser immer wieder in falsche Richtungen denken lassen. Trotz umfangreichem Personal behält man immer die Übersicht und glaubt nach wenigen Seiten, alle Menschen in der Geschichte zu kennen. Mit ihrer absolut sympathischen Hauptfigur, die nun mal einen riesengroßen Fehler gemacht hat, verbündet sich jeder Leser aber gern und natürlich möchte er herausfinden, „was sie nicht wusste.“

Der ideale Krimi für ein verregnetes Wochenende! Genial wie Nicci French erneut mit einem spannenden, alltagstauglichen Plot den Leser ans Sofa gnadenlos fesselt.