Elif Shafak: Unerhörte Stimmen, Aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Kein & Aber, Zürich 2019, 431 Seiten, €24,00, 978-3-0369-5790-6



„Istanbul war eine fließende Stadt. Nichts hatte hier Bestand, nichts war hier ein für alle Mal entschieden. Begonnen hatte alles Jahrtausende zuvor, als das Eis schmolz, der Meeresspiegel anstieg, die Fluten wogten und alle bekannten Formen des Lebens untergingen. Wahrscheinlich flohen die Pessimisten als Erste aus dem Gebiet, während die Optimisten abwarteten, wie sich die Dinge entwickelten.“

Elif Shafak ist eine äußerst produktive türkische Schriftstellerin, die heute in London und Istanbul zu Hause ist. Nationalisten in der Türkei jedoch erkennen sie nicht mehr als türkische Autorin an, seit sie vor dreizehn Jahren begann, ihre Romane zunächst in Englisch zu schreiben. Dabei spielt die Handlung ihres neuen Romans in Istanbul unter Menschen, die der Mehrheitsgesellschaft suspekt sind. Elif Shafak jedoch interessiert sich für ihre Schicksale und ihre „unerhörten Stimmen“.

Im Zentrum der Geschichte im Jahr 1990 steht Tequila Leila, eine Anfang vierzigjährige Prostituierte, die ermordet in einem Müllcontainer gefunden wird. Sie ist eine von mehreren Toten, die Opfer von Verbrechen geworden sind. Außergewöhnlich ist, dass Elif Shafak dieser toten Frau nun eine innere Stimme gibt und sie auf ihr Leben zurückblicken lässt. Sie geht der Frage nach, woher diese Frau stammt, warum sie in der Prostitution gelandet ist und ihre Familie es ablehnt, die Tote zu begraben. Geboren in dem kleinen Ort Van im Jahre 1947 wird Leila traditionell erzogen. Sie weiß irgendwann, dass sie nicht von der Mutter geboren wurde, die sich dafür ausgibt, sondern von ihrer Tante Binnaz, die als ungebildete Gebärmaschine und zweite Frau des Vaters viel zu erleiden hat. Zwischen religiöser Erziehung, Aberglauben und westlichen Einflüssen hin- und hergerissen wird Leila bereits als Sechsjährige von ihrem wohlhabenden Onkel missbraucht. Unwissend und sich schuldig fühlend, dafür sorgt der Onkel, kann sich das Kind den Übergriffen, die nicht mehr aufhören, nicht entziehen. Schizophren ist diese Situation, in der Frauen das Haus nur mit dem Hidschab verlassen dürfen, um ihre Reinheit zu bewahren. Mit der zunehmenden Religiösität des Vaters führt dieser einen heiligen Krieg zu Hause. Die Frauen dürfen keine Zeitungen lesen, nicht fernsehen und natürlich nur das Haus verlassen, wenn es unbedingt sein muss. Dabei lauert die Gefahr innen, und als Leila eine Fehlgeburt erleiden muss, weiß ihr Vater genau, dass sie die Wahrheit sagt, als sie mit ihren sechzehn Jahren ihren Onkel anklagt. Aber als Tochter und Frau erlangt sie kein Gehör. Ein Bräutigam, ein Sohn des Onkels ist schnell gefunden. Leila entzieht sich der Zwangsverheiratung durch Flucht in die Stadt Istanbul, in der sie unweigerlich ohne finanzielle Hilfe untergeht.

Verkauft an ein amtlich zugelassenes von der Polizei bewachtes Bordell ist sie der Willkür der dort herrschenden „Rabenmutter“ ausgeliefert, die sie aber auch auf ihre Weise schützt. Aber Leila, die sogar einen Schwefelsäureangriff eines Freiers entgeht, findet Freunde, wiederum Menschen, die im Großstadttrubel nach ihrem Glück suchen und es nicht finden. Da ist die Transfrau Nalan, deren Leben Leila rettet, als sie sich um sich kümmert, nachdem Männer sie verprügelt haben. Auch Nalan hat sein dörfliches Zuhause verlassen, um in der Stadt seine Freiheit zu finden. Da ist Sinan, ein Junge aus Leilas Ort, dessen Mutter als alleinerziehende Apothekerin den Unmut und auch die Skepsis der Bewohner auf sich zieht. Sinan wird Leila in Istanbul wiedersehen und sie auch als Freund treffen. Die aus Somalia geflüchtete Jamila kommt in der Türkei unter völlig falschen Versprechungen an. Sie wird eine Freundin von Leila, wie die kleinwüchsige Zaynab, die im Bordell putzt und den Tee zubereitet.
Gerüche und Geräusche aktivieren die Erinnerungen der eigentlich längst Toten.
Berührend ist, wie die Freunde vor dem Leichenschauhaus warten, um Leila zu begraben. Aber die Behörden arbeiten nach Vorschrift und so landet die Ermordete auf einem Friedhof der Geächteten. Das können die Freunde nicht hinnehmen.

In immer wieder zeitlich nicht kontinuierlichen Erinnerungen setzen sich langsam Lebensgeschichten zusammen, die von sehr viel Schmerz, aber auch Freude berichten. Wie gespalten die türkische Gesellschaft in jeglicher Hinsicht ist, ob es nun um religiös motivierte oder menschliche Konflikte geht, davon erzählt Elif Shafak sprachgewaltig und empfindsam, in dem sie Leilas Lebensweg nachvollzieht und nicht die Suche nach den Tätern.