Susan Hill: Phantomschmerzen – Auszeit für Inspector Serrailler, Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol, Kampa Verlag, Zürich 2020, 378 Seiten, €16,90, 978-3-311-12014-8

„Nichts ist passiert. Niemand hatte etwas herausgefunden. Er hatte nichts getan. Inzwischen glaubte er sich. Er hatte sich selbst davon überzeugt. Er hatte es nicht getan. Die anderen ja. Aber diesen nicht. ( … ) Natürlich hatte er es getan. Niemand sonst wusste davon, nur er.“

Simon Serrailler hat es schwer getroffen. Der Ermittler aus Lafferton wurde nach gut zwanzig Jahren Polizeiarbeit bei einem Einsatz verletzt. Seine Schwester Cat, selbst Ärztin, weiß, wie ernst es ist. Obwohl der operierende Arzt gehofft hatte, dass er Simons linken Arm retten könnte, muss er doch nach einer septischen Entzündung amputieren. Simon fällt in keine Depression, denn er weiß, dass er tot sein könnte. Außerdem ist er immer noch in der Lage, zu zeichnen, zu lesen, und vor allem seinen Beruf auszuüben. Das hat ihm sein Vorgesetzter Kieron Bright mehrmals versichert.
Die medizinische Technik ist weit fortgeschritten. Mit seinem neuen Arm wird er vieles machen können, was vor Jahren kaum möglich war. Auch wenn die Allgemeinmedizin laut Cat in England auf einem niederen Level ist, muss Simon nicht verzagen.

Susan Hill umkreist in ihrem intelligent gebauten Krimi nicht nur mögliche Fälle, sondern sie schaut tief in die Psyche ihrer Figuren hinein und öffnet mehrere Handlungsstränge. So lernt man den Vater von Simon kennen, der angeblich eine Frau vergewaltigt hat und jetzt in Frankreich lebt. Wir schauen Cat und Kieran, beide haben vor kurzem geheiratet, bei ihrem Familienleben und ihren Problemen mit dem Ältesten, Sam, zu. Und nah an den Gedanken von Simon läuft der Leser sozusagen an seiner Seite mit. Zur Erholung verbringt Simon ein paar Wochen auf der schottischen, rauen Insel Taransay.

Parallel wird von Marion Still berichtet. Vor fünf Jahren ist ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Kimberley verschwunden. Nie ist eine Leiche aufgetaucht, allerdings wurden zur gleichen Zeit zwei junge, tote Frauen nackt, aber nicht missbraucht, aufgefunden. Der Täter, Lee Russon, sitzt im Gefängnis. Allerdings hat er vehement immer seine Unschuld beteuert, wenn es um Kimberley ging. Immer wieder taucht Marion Still auf der Polizeistelle auf und fragt nach dem Ermittlungsstand. Kieron fällt es schwer, sie abzuweisen, zumal er momentan mit den Bränden beschäftigt ist, die überall in Stadt gelegt werden. So beauftragt er Simon, nochmals alle Akten durchzugehen und nach Schwachstellen in den Ermittlungen zu suchen.

Auf der Insel, jeder kennt hier jeden, lernt Simon Sandy Murdoch kennen. Sie ist die Neue und scheinbar eine fröhliche, kontaktfreudige und äußerst starke Frau. Was sie wegtragen kann, erstaunt den Polizisten über die Maßen. Doch dann wird Sandy vermisst und erschossen am Strand gefunden.
Zwar darf Simon als Polizist in dieser Landesregion nicht ermitteln, aber der Personalmangel macht es dann doch möglich.
Susan Hill beschreibt in einer unterhaltenden wie literarischen Sprache packend die kriminalistische Aufarbeitung eines nahezu vergessenen Verbrechens, indem Simon präzise und mit Lebenserfahrung allen Spuren im Kimberley-Fall nochmals nachgeht. Bei aller Schwere des eigenen Schicksals kann sich Simon auch auf den Mordfall auf der Insel konzentrieren und er wird nach dem Routinebesuch in der Pathologie eine erstaunliche Entdeckung machen, die Sandy in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt.

Nie verfällt Susan Hill in eine melancholische Stimmung, sondern reflektiert mit Simon das Geschehene beinahe nüchtern. Nahezu therapeutisch klingt es, wenn sie ihn trotz Versehrtheit ins Leben zurückholt und einfach nur das machen lässt, was er am allerbesten kann, ermitteln.

Wunderbar sind innerhalb der Romanhandlung auch die vielen Querverweise zu literarischen Werken, die den Polizisten, aber auch den Täter im Gefängnis interessieren.

Absolut empfehlenswert!