Anna Katharina Hahn: Aus und davon, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 303 Seiten, €24,00, 978-3-518-42919-8


„Das ist das Beste am Fressen. Er weiß, dass er frisst. Aber wenn er genug hat, fühlt er sich stark. Dabei rutscht alles in den Magen, auch sein Herz. Es panzert ihn von innen. Wut, Schmerzen, Tränen rutschen an dieser Rüstung aus Fett und Zucker ab und versinken in einem endlosen Morast.“

Die Stuttgarter Autorin Anna Katharina Hahn führt den Leser mitten hinein in den Osten der Stadt, den sie selbst auch bestens kennt. Hierher musste die fünfundvierzigjährige Cornelia Geiger – Chatzis, von Beruf Physiotherapeutin, mit ihren Kindern Stella und Bruno nach der Scheidung von ihrem griechischen Mann ziehen. Elisabeth, ihre Mutter, findet die Wohngegend mehr als unangenehm und sie kann das Chaos in Cornelias Leben und in ihrem Haushalt schon gar nicht verstehen. Dabei hat sie selbst Vollzeit mit zwei Kindern gearbeitet und alles, ob im eigenen Reisebüro oder Zuhause, immer auf die Reihe bekommen. Pragmatisch, patent, pietistisch erzogen, absolut zuverlässig und geradlinig – so ist Elisabeth. Doch so unfehlbar ist die Eli-Omi auch nicht, weiß Cornelia:

„Ich komme mir vor wie ein Arschloch, aber ihre Schwäche zu sehen fühlt sich jedes Mal an wie Nutella auf warmem Toast.“

Auch Cornelia ist eine Kümmerin, nur auf ihre Art. So hat sie sich nach dem Schlaganfall des Vaters seine Behandlungen schnellstens organisiert und ihm damit auf die Beine geholfen. Elisabeth dagegen konnte sich mit dem gehandicapten Mann nicht abfinden. Durch ihre Ungeduld und Lieblosigkeit hat sie es ihm nicht schwer gemacht, sich nach einer anderen Frau umzusehen.

In Gedankenströmen, aber auch Rückblenden betrachten Elisabeth, Cornelia und auch Bruno, der in der Schule gnadenlos wegen seiner Fettleibigkeit gemobbt wird, ihr Leben.
Zu Wort kommt auch eine Puppe, die Linsenmaier heißt und vom kurzzeitigen Aufenthalt von Elisabeths Mutter, Trudele, in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet.

Als Lieblingskind ist sich Cornelia der Hilfe ihrer Mutter gewiss und so nimmt sie sie auch in Anspruch, denn sie hat das Gefühl, dass sie ohne Tapetenwechsel bald durchdrehen wird. Alle ihre Gedanken kreisen um den dicken Sohn, der seinen Kummer offenbar nach der Scheidung in sich hineingefressen hat. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird Cornelia allein verreisen. Ihr Ziel: Manhattan und Pennsylvania. Durch die sozialen Medien jedoch verschwindet der Abstand kaum zu den Lieben daheim. Cornelia skypt am ersten Abend und schon zerfließt Bruno in Tränen. Sie erfährt durch die Sprachnachrichten und Fotos vom Vater, dass er nicht mehr Zuhause wohnt. Sie stellt Fotos in ihren Whatsapp-Account und scheint somit den Stress, über den großen Teich einfach nur verlagert zu haben. Auch wenn Elisabeth ihr ständig versucht zu vermitteln, dass alles in Ordnung ist, ahnt Cornelia, dass vieles im Argen liegt. Und so ist es letztendlich auch. Bruno wird von seinen fiesen Klassenkameraden gemobbt, die pubertierende Stella ist sehr verliebt in den jungen Syrer Hamid, der nach Berlin gehen wird und Elisabeth selbst kann sich mit ihren Vorstellungen beim Umgang mit Kindern nicht durchsetzen. So schwänzt Bruno einfach den Unterricht, Stella sabotiert alle Verabredungen und Elisabeths Gesundheit hält all diesen Konflikten und Unwägbarkeiten nicht stand. Immer dreht sich alles um Essen, das wird ein Ernährungstagebuch für Bruno geführt, massenweise Tüten werden aus dem Auto in die Wohnung geschleppt und es wird pausenlos gekocht und gegessen.

Nach einer Einkaufsarie gegen das schlechte Gewissen reist Cornelia auf den Spuren der unbekannten Großmutter nach Meadville zu ihren entfernten Verwandten. Hier trifft sie Joy und erfährt vieles über das tragische Schicksal der Familie im sogenannten Kleindeutschland und ihre Großmutter Trudele, die als Dienstmädchen tätig war.
In einem Interview sagte Anna Katharina Hahn, dass die Geschichte von Trudele

„zum Teil die Geschichte meiner eigenen Großmutter ist, die mit 18 Jahren tatsächlich in den USA genau diesen Job gemacht hat.“

Und da sind die Wandertauben von Hinz, die auf dem Dachboden des Hauses im Alosenweg wohnen und frei durch die Lüfte fliegen und immer wieder zurückkehren. Eine Vogelart, die in New York ausgestorben ist.

Warum sind Menschen so und nicht anders? Wie verhalten sie sich in Extremsituationen? Wie lebt es sich, wenn immer alles perfekt und vor allem richtig sein soll?

Die einzelnen Figuren, und das ist Anna Katharina Hahns absolute Stärke, kann sich der Leser vor seinem inneren Auge genau vorstellen. In weit gespannten Bögen erzählt die Autorin von Frauen, die sich auf ihre Art durchsetzen und doch auch an sichtbaren wie unsichtbaren Grenzen scheitern.