Petra Johann: Die Schwester, Rütten & Loening Verlag beim Aufbau Verlag, Berlin 2023, 410 Seiten, €18,00, 978-3-352-00998-3

„Wenn ich etwas über meine Schwester gelernt habe, dann dies: Wie Lisa nach außen wirkte und wie es in ihrem Inneren aussah, war nicht dasselbe. Vielleicht war es das nie, und ich habe es nur nie bemerkt, oder es ist erst später auseinandergetrieben, und ich habe den Zeitpunkt verpasst.“

Mara, die Ich-Erzählerin, und ihre Schwester Lisa, eigentlich Elisabeth, sind sehr unterschiedlich. Mara, acht Jahre jünger als Lisa, hat sich allen Konventionen verweigert und versucht mit spektakulären Aktionen, einen finanziell lukrativen Platz in den sozialen Medien zu erobern.
Darum hat sie sich auch die Haare blau gefärbt, was ihre Mutter garantiert wieder auf die Palme bringt. Alles andere als unkonventionell lebt Lisa. Als Oberärztin im Neustädter Klinikum geht sie einer verantwortungsvollen, stressigen Arbeit nach, ist mit Tim, einem Übersetzer, verheiratet, hat zwei Kinder und natürlich ein Eigenheim mit Garten. Alles läuft wie am Schnürchen, denn Lisa ist in allem perfekt. Sie führt eine harmonische Ehe, organisiert den Haushalt, ist eine gute Mutter und eine aufopferungsvolle Ärztin, die sogar eine Patientin außerhalb ihrer Arbeitszeit in den Tod begleitet. Vielleicht zu perfekt, zumindest für Mara, die allerdings ihre Schwester bewundert und sehr liebt.
Für Gisela, die Mutter von Mara und Lisa, ist die älteste, hochbegabte Tochter diejenige, die alles richtig macht, im Gegensatz zu Mara. So fühlt Mara sich auch immer wie das Kind, das eigentlich gar nicht gewollt war, ein Unfall.
Doch Mara ist nie nachtragend. Als Lisa sie dann ganz kurzfristig darum bittet, doch als Babysitter für ein Wochenende einzuspringen, sagt Mara zu. Sie liebt die so ernste, siebenjährige Alma und ihren momentan ziemlich nervigen zweijährigen Neffen Hektor. Lisa fährt zu einer Tagung und Tim
reist nach Hamburg zu einem Junggesellenabschied. Von Hektors Tobsuchtsanfällen mal abgesehen, könnte alles prima laufen. Doch dann stellt sich heraus, das Lisa zwar im Hotel des Tagungsortes angekommen ist, aber nie an der Tagung teilgenommen hat. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.

Aus der personalen Erzählperspektive beschreibt Petra Johann nun die Polizeiarbeit der selbstbewussten Ermittlerin Pia Meyer und ihrem Kollegen Oliver Breckenkamp, dem Ex-Freund von Mara. Und wie immer bei erwachsenen Vermissten bleibt die Frage, ob es sich wirklich um dringliche Arbeit handelt. Mara, Tim und auch Gisela jedoch fragen sich, welchen Grund Lisa gehabt haben sollte, einfach so zu verschwinden. Auch nach den Befragungen im privaten wie beruflichen Umfeld lässt sich kein Grund erkennen. Mara beginnt nun, auf eigene Faust Recherchen anzustellen und sie findet heraus, dass Tim eindeutig lügt. Er war nicht in Hamburg beim Junggesellenabschied. Hat Lisa ihren Mann betrogen? Ist sie mit ihrem Liebhaber auf und davon?
Und welche Rolle spielt diese vulgäre Zeichnung, die Mara in Almas Sammlung von allen möglichen Alltagspapieren gefunden hat? Und was treibt der Teenager von nebenan in Lisas Garten? Und warum war Lisa, die immer alles allein mit sich ausmachen wollte, bei einer Psychotherapeutin?
Doch dann wird Lisas Leiche unweit des Tagungszentrums gefunden und wieder stellt sich die Frage, wer hat Lisa gehasst?

Dieser spannend geschriebene Krimi überrascht mit seinen Wendungen, die kaum vorhersehbar sind. Immer wieder fließen mögliche Motive für Lisas Handeln ein, die jedoch kaum zu ihrer Persönlichkeit passen. Petra Johann entwirft das Bild einer klugen, bodenständigen Person, die jedoch allen offenbar etwas vorspielt. Doch warum kann Lisa nicht das Leben leben, dass für sie das richtige ist? Erst am total schockierenden Ende werden die Lesenden verstehen, worum es wirklich in diesem Plot geht. Petra Johann hat ihr spezielles Thema, dass neuerdings Frauen beschäftigt, überzeugend in einer Handlung verpackt, die bis zur letzten Seite fasziniert und auch über die Lektüre hinaus beschäftigt.