Anette Hinrichs: Nordlicht – Die Spur des Mörders, Blanvalet by Randomhouse Verlagsgruppe, München 2020, 480 Seiten, €10,00, 978-3-7341-0723-8

„Ein leichtes Schaudern lief über seinen Rücken. Er blickte zu seinen Kollegen. ‚ Wir müssen in Karl Bentiens Vergangenheit graben, so tief wie möglich. Und so wie es aussieht, müssen wir ganz am Anfang beginnen. In Oksbøl.’“

Karl Bentien, 73 Jahre alt, einst Geschichtslehrer zugehörig der Minderheit der Dänen in Deutschland wird am Idstedt-Löwen – Denkmal in Flensburg brutal erschlagen aufgefunden. Warum musste dieser Mann, der sich offenbar intensiv mit der eigenen traumatischen Kindheit und Vergangenheit in Pflegefamilien, aber auch mit den Flüchtlingslagern in Dänemark nach 1945 und der heutigen rigiden Flüchtlingspolitik Dänemarks auseinandergesetzt hat, sterben?

Die Kriminalkommissare Vibke Boisen, verschlossen und extrem korrekt, und Rasmus Nyborg, der wie Lars Mikkelsen aussieht und manchmal eher unkonventionelle Wege geht, arbeiten wieder mit ihrem Team zusammen. Vibke, die selbst adopiert wurde, geht das Schicksal des Opfers, der in Oksbøl einem Flüchtlingslager für deutsche Vertriebene geboren wurde, und seine Suche nach dem eigenen Lebensweg als von den Eltern verlassenes Kind in der Nachkriegszeit sehr nah. Aufgewachsen zu sein bei unterschiedlichen Pflegeeltern ohne Halt, ohne Liebe, das kennt die Polizeikommissarin.
Als Karl zu den Madsens kam, Angehörigen der dänischen Minderheit, konnte er ohne Probleme mit ihnen Dänisch sprechen. Für ihn kamen mit der Sprache aber auch Erinnerungen an Dunkelheit, Schmerz und Angst hoch. Doch wer waren seine Eltern, sein Vater? Ein Nazi, ein Däne?
Karl Bentiens eigener Sohn Jan scheint so gar keine Beziehung zum Vater gehabt zu haben. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Jan ist spielsüchtig und hat den Vater ständig um Geld gebeten.

Anette Hinrichs führt den Leser zu verschiedenen Orten und Menschen im dänisch-deutschen Grenzgebiet, die offenbar in ihrer Vergangenheit mit Karl Bentien zu tun hatten. Da sind zum einen die zerstrittenen Hofbesitzer Johannsen. Vater Evan und Sohn Svend reden nicht mehr, seit der Sohn sich für den biologischen Anbau entschieden hat. Nun steht er vor dem Aus und kann das Futter für die Tiere nicht mehr bezahlen. Und da ist die reiche dänische Unternehmerfamilie, die sich auf Medizintechnik in Esbjerg spezialisiert hat, die von ihrem fast 100-jährigen Vater. Aksel Kronberg, tyrannisiert wird. Valdemar Frolander, ein langjähriger Freund und ebenfalls engagiert in Sachen dänische Minderheit, hatte Karl zuletzt gesehen und mit ihm gestritten. Offenbar wollte Karl einen Raum für eine Ausstellung zum Flüchtlingsthema mieten. Außerdem plante er eine Buchveröffentlichung.

Der Leser ist teilweise besser informiert als die Polizeibeamten, denn er ist dabei als Karl Bentien glaubt, seinen Vater getroffen zu haben. Dieser Vater jedoch, der zwei Kinder noch fast im Babyalter am Kriegsende verloren hat, weiß, dass Karl nicht sein Sohn ist. Karl erfährt nun, dass seine Mutter Ilse tot ist, sie hat sich erhängt. Karl hat auch einen Halbbruder, aber diesen hat er vielleicht vor 25 Jahren mal gesehen. Wer ist nun der biologische Vater von Karl?

Nach und nach sammeln die Kommissare alle Informationen über Karls leidvolle Kindheit. Sie finden Vigga Persson, die Mutter von Evan Johannsen, in Malmö, bei der Karl in Solderup bis 1952 unter schrecklichen Bedingungen leben musste. Der einzige Grund für die brutale Behandlung des Kindes, es war ein deutscher Junge. Vibke kann bei den hasserfüllten Schilderungen der alten, verbitterten einstigen Pflegemutter kaum an sich halten.
Zu nah geht den beiden Kriminalkommissaren der Fall, in dem es um ein elternloses Kind, aber auch die qualvolle Suche nach dem Vater geht. Vibke kennt das Schicksal von Heimkindern, Rasmus hat seinen fast erwachsenen Sohn vor einiger Zeit verloren und nun ist seine Ex-Frau Camilla schwanger, allerdings von einem letzten Zusammensein mit Rasmus.

Dass der Auslöser für den Mord an einem alten unbescholtenen Mann in der Vergangenheit liegt, wird durch die Recherchen der Ermittler immer deutlicher. Als dann das Tagebuch der Mutter von Karl auftaucht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Vibke, Rasmus und ihre Kollegen eine Verhaftung vornehmen können.

Gut erzählt untermauern die Recherchen der Autorin über die Flüchtlingsheime in der Nachkriegszeit diese spannende fiktive Geschichte. Die vielen Kreuze in der Nähe von Oksbøl belegen, dass Tausende unschuldige kleine Kinder auch als Folge der Kriegsereignisse zwischen Dänemark und Deutschland ihr Leben lassen mussten.