Lissa Evans: Miss Vee oder wie man die Welt buchstabiert, Aus dem Englischen von Sabine Roth, List Verlag, Berlin 2015, 246 Seiten, €18,00, 978-3-471-35117-8

„Vee schüttelte den Kopf. Noels Kauzigkeit machte ihr zunehmend Spaß; es war, als würde man sich mit jemandem unterhalten, der auf dem Mond groß geworden war.“

Der zehnjährige Noel Bostock ist nicht so wie die anderen Jungen. Wenn ihm langweilig ist, dann liest er die gesamten Werke von Edgar Wallace oder Dashiell Hammett. Als die Kinder Londons im Zweiten Weltkrieg evakuiert werden, hat seine Patentante Miss Matti keinen Bezug mehr zur Gegenwart. Der einst so tatkräftigen Frau, die für die Rechte ihres Geschlechtes als Suffragette auf die Straße gegangen war, kommen die Worte abhanden. Manchmal kann sie sie umschreiben, manchmal sind sie völlig verschwunden. Matti beginnt vor sich hinzureden. Sie will ihre Verwandten nicht mehr sehen. Noel muss sich um seine Mahlzeiten selbst kümmern und die Zeit, in der Matti mit ihm Aufsätze geschrieben hat, ist lang vorbei. Ab und zu entfällt ihr auch, wer Noel ist und dann geht sie im eisigen Winter auf die Straße.
Noel findet sie und muss nun bei den pingeligen Verwandten wohnen. Diese schicken ihn natürlich mit den anderen Kindern aufs Land. Noel wohnt nun bei Vee Sedge, einer chaotischen Witwe, die ihren erwachsenen, ziemlich dicken Sohn Donald und ihre Mutter irgendwie durchbringen muss. Vee hat Steuerschulden und ihre Wohnung ist eine Bruchbude. Sie hat nicht mal ein Bett für Noel.

Aber Noel und Vee gewöhnen sich aneinander. Der Junge weiß, dass er immer unterschätzt wird. Mit seinem hinkenden Bein, nur wenn er müde ist, schleift es ein bisschen, und seinen abstehenden Ohren sieht er etwas bedürftig aus. Doch öffnet Noel den Mund, dann muss auch Vee kapitulieren. Noch nie hat sie die Wörter gehört, die Noel wie von selbst aus dem Mund fließen. Er spricht Latein und das nervt Vee. Noel übernimmt alles. Er schreibt einen Brief an die ungeliebten Verwandten und er weiß, dass Vee auf Spendensuche für alles mögliche geht, allerdings nur um sich und die Familie durchzubringen.
Vee hat nie von dem Mann, der der Vater ihres Sohnes ist, etwas erwartet. Ab und zu jedoch ruft sie sich vergangene Tage ins Gedächtnis, in denen sie sich wirklich in Schwierigkeiten gebracht hat.

„Die Liste der Demütigungen in ihrem Leben war weiß Gott lang, aber die Erinnerung daran, wie sie durch den Briefschlitz um zwanzig Pfund und einen Schlüpfer aus pfirsichfarbener Spitze gebettelt hatte, rangierte ziemlich weit oben.“

In Noel schlummert auch, trotz Wut auf den Krieg und den Spendenbetrug ein Gerechtigkeitssinn. Als die wohlwollende Spenderin Mrs Gifford von einem Luftschutzwart bestohlen wird, will er sie unbedingt rächen.

Vee hat das Herz auf dem rechten Fleck und so unterstützt sie, leicht widerwillig ihr Pflegekind. Aber dann zieht Donald den Jungen in seine linken Machenschaften hinein und Vee muss Noel in London suchen.

Lissa Evans erzählt von der ungewöhnlichen Schicksalsgemeinschaft in einer schrecklichen Zeit. Vee und Noel kommen trotz anfänglicher Fremdheit gut miteinander aus. Am Ende ist klar, sie wird für ihn da sein, auch über die Kriegszeit hinaus. Und wenn Noel endlich mal wie ein Kind reagiert und um seine tote Tante Matti weint, dann ist Vee da, um ihn zu trösten.