Catherine Mckenzie: Letzte Nacht, Heyne Verlag, München 2015, Aus dem Amerikanischen von Marie Rahn, 416 Seiten, €12,99, 978-3-453-41870-7

„Er hat mich im richtigen Moment erwischt. Das dachte ich immer, als Jeff und ich anfingen, miteinander zu reden, zu mailen, mit den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung standen, Zeit miteinander zu verbringen. Als ich versuchte zu verstehen, was ich machte. … Warum ich ihn in mein Leben ließ?“

Doch wann war dieser richtige Moment? Jeff Manning lebt glücklich mit seiner Frau Claire in Springfield. Auch Tish Underhill führt eine gute Ehe im anderen Springfield. Jeff und Tish arbeiten in derselben Firma, er in der Buchhaltung, sie in der Personalabteilung, allerdings in zwei verschiedenen Orten, die Springfield heißen. Kurz sind sie sich auf einer Firmenfeier begegnet und dann entstand etwas später dieser Mailkontakt. Zuerst ging es sicher um die Arbeit, später um anderes.

Warum jedoch suchen zwei anscheinend harmonisch in Partnerschaften lebende Menschen den intimen Kontakt zu einem anderen? Jeff und Tish sind sich durchaus bewusst, was sie aufs Spiel setzen. Jeff hat einen wunderbaren Jungen, Seth, und Tish hat eine hochbegabte Tochter. Zoey schreibt leidenschaftlich gern Gedichte und nimmt an Poesiewettbewerben teil. Tish ist mit dem Allgemeinmediziner Brian, einem sensiblen, engagierten Mann, verheiratet.

Aber dann bricht in all diese Geheimnisse das Unglück herein. Jeff wird mitten im Leben von einem Auto tödlich angefahren. Er ist auf die Straße gelaufen, die Fahrerin wurde geblendet und konnte nicht mehr stoppen.

Catherine Mckenzie erzählt von zwei ganz normalen Familien aus der Sicht aller Beteiligten: Tish, Jeff, Claire und Brian. Nach und nach lernt der Leser die Figuren kennen. Er weiß, wie sich Jeff und Claire kennengelernt haben, wie Tish und Brian mit ihrer Tochter umgehen, wie die Leben all dieser Personen im Alltag funktionieren.

Claires hat ihren Beruf als Anwältin nach ihrer Fehlgeburt aufgegeben. Sie beschloss einen Kindergarten zu eröffnen. Playthings heißt die Einrichtung, die Claire als neue Aufgabe mit Lust auf die Kinder und den Ärger mit den egoistischen Eltern angenommen hat. Einst war sie die Freundin von Jeffs Bruder Tim, der jedoch nach Australien ausgewandert ist. Claire ist letztendlich wegen Jeff geblieben, aber das hat er nie so richtig verstanden.

Konflikte gab es sicher in beiden Ehen und doch schienen diese nie so ausufernd zu sein, dass sie zu Trennungen geführt hätten.\r\n\r\nEinfühlsam und konsequent auf der Seite ihrer Protagonisten beschreibt die in Montreal lebende Juristin und Autorin die unterschiedlichen Lebenswege, die Menschen zusammenführen und auch wieder trennen. Tish reist angeblich für die Firma zu Jeffs Trauerfeier. Hier trägt Seth ein Gedicht für den Vater von ihrer Tochter Zoey vor. Tish muss weinend die Feier verlassen und irritiert damit Claire, die sich langsam Gedanken macht. Letztendlich wird Claire durch viele Unstimmigkeiten auf Jeffs mögliches Verhältnis mit Tish aufmerksam. In ihrer Trauer will sie unbedingte Klarheit über Jeffs Vergangenheit und fragt sich doch auch, ob sie die Erinnerungen und das Bild, das sie von ihm hat, dadurch nicht zerstört.

Bleibt die Frage, gibt es nur einen Menschen, den man lieben kann?