Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 234 Seiten, €20,00, 978-3-462-05156-8

„Die Geschichten, die ihm durch den Kopf gehen, haben etwas mit diesem Wort ( Edelfäule ) zu tun, Geschichten aus einer Gesellschaft, deren schöne Fassade bröckelt wie trockene Schminke auf dem Gesicht einer Alternden, die das Alter fürchtet, von deren Schlössern der Putz fällt und durch deren undichte Dächer der Wind der Veränderung, wenn nicht gar der Sturm des Umsturzes zieht.“

Das Wort „Edelfäule“ fällt, als Lovis Corinth den Dichter Eduard von Keyserling beim Sommeraufenthalt 1901 am Starnberger See malen möchte. Max Halbe und Frau haben eingeladen und alle sind gekommen, außer Frank Wedekind, der wieder schmollt. Die Gesellschaft erlebt unbeschwerte sonnige Tage und Keyserling, den die meisten Edchen nennen, hängt seinen Gedanken nach und erinnert sich in Rückblenden an Episoden aus seinem Leben. Ein Geheimnis umwittert den Dichter, das er nicht preisgeben kann und will. Es hat mit Ada, einer Frau aus einfachen Verhältnissen zu tun, die durch ihre Ehe mit dem Generalmajor Friedrich von Cray aufgestiegen ist. Eduard von Keyserling, der Graf, wie er sich nur nennt, wenn es ihm einen Vorteil verschafft, lebt nach einer Zeit in Wien nun mit seinen beiden Schwestern, die ebenfalls dichten, in München. Als Corinth ihn malt und er das Bild sieht, erkennt er die eigenen körperlichen Gebrechen, die sich bereits andeuten. Keyserling weiß, dass er trotz Quecksilberbehandlung erblinden wird.

Wie ein Mensch aus einer Zeit, die untergegangen ist, wirkt dieser Graf, dessen Dichtungen und Romane ( „Die dritte Stiege“ oder „Die Wellen“ ) längst in Vergessenheit geraten sind.
Geboren in Kurland, heute Lettland, verbrachte Edchen, das zehnte von zwölf Kindern, seine Kindheit auf Schloss Tels-Paddern, wohin ihn die Mutter in den Jahren von 1890 bis 1894 beorderte, da der älteste Sohn Otto seine Frau bei einer Kur begleiten muss. Keyserling kann den Gutsherren nur spielen, denn sein Interesse an der Landwirtschaft hält sich in Grenzen.
Auch an den Tod des Vaters erinnert sich der Dichter, einen Vater, der um die Vorlieben und Schwächen seines Sohnes wusste. So beglich er seine Spielschulden und hielt sich mit Ermahnungen doch zurück, wohl im Wissen, dass die Frauen, das Geld und die vermeintliche Liebe das Schicksal seines Sohnes bestimmen werden.

Als die Mutter dann verstarb, kehrte der Bruder wieder nach Kurland zurück und Eduard war für ein Leben, dass er sich erträumte, frei. Er wollte für die wahre Literatur leben, reisen, Liebschaften pflegen, gut leben. Dies sollte ihm nicht vergönnt sein, denn durch seine Leidenschaft für das Spiel geriet er immer wieder in Schwierigkeiten und einmal sogar … , aber das sollte wohl ein Geheimnis bleiben.

Als Leser folgt man Keyserling in eine Welt, in der die Sommer noch wunderbar heiß waren und die Winter bitter kalt. Die gehobene Schicht der Von und Zu trifft sich zu Bällen und man logiert in Hotels, verbringt eine lange Zeit bei Freunden oder auf Schlössern.

All dies beschreibt Klaus Modick in einer unverwechselbar bildreichen wie literarisch genussvollen Sprache.

„Leise vor sich hin singend bummeln Hummeln durch die Vormittagssonne, hängen ihre Samtleiber an die Rosenblüten und die Glocken des Benediktenkrauts im verwilderten Rasen. Zwischen Stockrosen, Astern und Malven lehnt der Sommer lässig am Gartenzaun und sieht den Schwalben zu, die ihre schnellen Schriftzüge in den Himmel kritzeln.“

Schildert der Autor die Naturgeschehnisse zwar zeitlos, so ahnt der Leser, wie eingeengt, das Korsett als Sinnbild der Zeit, die Mitmenschen des Grafen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihren Gesellschaftsschichten gelebt haben. Wenige Zeugnisse von Keyserlings Leben existieren, denn sein schriftlicher Nachlass wurde auf seinen Wunsch hin vernichtet.

Im Ausklang des fiktiven wie unaufdringlichen Romans über Eduard von Keyserling, dessen 100. Geburtstag sich am 28. September 2018 jähren wird, verweist Klaus Modick auf ein Werk des Grafen „Die Wellen“, das vielleicht doch als Klassiker in Erinnerung bleiben wird und eine Leseempfehlung sein könnte.

„Und der See spricht auch zu Keyserling, atmet Erinnerungen aus. Er braucht ja nur den Artikel austauschen, dann wird der See die See, die Ostsee seiner Kindheit. Wellen gibt es dort wie hier, damals wie heute. Der Duft, der Dunst, das Licht. Und der Augenblick. Mehr braucht er nicht.“