Deutscher Buchpreis 2019
Saša Stanišić: Herkunft, Luchterhand Verlag, München 2019, 355 Seiten, €22,00, 978-3-630-87473-9

„Meine Rebellion war die Anpassung. Nicht an eine Erwartung, wie man in Deutschland als Migrant zu sein hatte, aber auch nicht bewusst dagegen. Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören. Überall, wo man mich haben und wo ich sein wollte. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte.“

So berichtet Saša Stanišić, heute ein angesehener Autor aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Er und seine Kumpels aus Polen, der Türkei und anderen Ländern trafen sich an der ARAL-Tankstelle. Hier wurde nicht gefragt, woher kommst du, sondern, was hast du drauf? Das war in Heidelberg und hier landete der Jugendliche aus Višegrad ( Jugoslawien ) im Jahr 1992 mit vierzehn Jahren. Mit seiner Familie floh er vor sogenannten „ethnischen Säuberungen“. Gut 3000 Menschen sind in Višegrad ermordet worden. Ein Soldat hatte Saša Stanišićs Mutter, eine bosnische Muslimin, gewarnt. Dabei spielte die Religion in der Familie Stanišić keine Rolle. Aus der Erinnerung, aber auch mit Hilfe von frühen Tagebuchaufzeichnungen und einer gehörigen Prise Humor und Selbstironie, so erzählte der Autor in der Sendung Diwan ( BR ), entstand in einem kunstvollen essayistischen Ton der vorliegende Band „Herkunft“.
Der Besuch in der Heimat, der Besuch der Verwandten, der in die Demenz abgleitenden Großmutter, dient als Rahmenerzählung.
Saša Stanišićs Gedanken kreisen immer wieder um das neue Leben in Deutschland vor dem Hintergrund des Balkankrieges, das Erlernen einer neuen Sprache, die Ankunft in einer Wohngegend in Heidelberg, die zum größten Teil mit Migranten besiedelt war, aber auch das gegenwärtige in Hamburg, das eigene Familienleben, die aufkommende Kraft der AfD. .

Anrührend und zugleich notwendig sind diese Berichte, die von den Schwierigkeiten und Demütigungen im neuen Land, aber auch zahlreichen positiven Beispielen von Menschen erzählen, die speziell Saša Stanišić geholfen haben. Da ist der Deutschlehrer, der den Jungen ermutigt seine Gedichte auf Deutsch zu schreiben und diese dann sogar von den Klassenkameraden interpretieren lässt. Da ist ein Behördenangestellter, der sich den Jungen anschaut, ihm zuhört und versteht, dass er in Deutschland, die Eltern mussten ausreisen, bleiben möchte, um zu studieren und hier zu leben.
Da ist die erste Freundin, die aus der ehemaligen DDR stammt, und ganz selbstverständlich über die engen Wohnverhältnisse ihres Freundes hinweggeht. Und da ist der Nachbar und Zahnarzt, der ohne große Fragen dem Jungen hilft.

Die Familie landet jedoch nicht in der Idylle, ganz im Gegenteil, sie wohnen beengt, arbeiten hart, kämpfen gegen Niederlagen und haben doch auch Angst vor Abschiebung.
So behauptete Saša Stanišić, dass er aus Slowenien stamme und eigentlich als Skifahrer Sehnsucht nach den Alpen habe. Der Grund, niemals wollte er als Opfer des in die Schlagzeilen geratenen Krieges sein.

„Mit der Zeit kannten wir die Vorurteile und lernten, gemeint zu sein, ohne so zu sein. Aggressiv und primitiv und illegal. Zwiebeln und Keime. Ausgewandert, um zu unterwandern. Im Grunde betrieben wir Aufklärungsarbeit, indem wir uns verhielten, wie wir uns überall verhalten hätten: als Menschen, die zufällig nicht da sein konnten, wo sie lieber wären. Wir mussten uns nicht verstellen.“

Immer erzählt Saša Stanišić mit Zuneigung und Sympathie über Menschen, die ihn auch vor Fragen stellten und die er jetzt auf Facebook sucht und nicht findet. Da sind die Freunde, die ihm Bücher geliehen haben, mit ihm einfach, und das war das Wichtigste, Zeit verbracht haben. Im Nachhinein überdenkt er auch die Arbeitssituation der Eltern, die hart und unter ihren Möglichkeiten in der Produktion arbeiten mussten.
Es ist der leichte, auch manchmal ironische Erzählton, der wunderbare Umgang mit der Sprache, der die Lektüre so angenehm macht. Da vertieft sich ein Jungen in „Kleiner Mann, was nun?“ von Hans Fallada und später dann in die Lyrik Eichendorffs.

In Zeiten, wo die Herkunft, die Identität oder auch die Heimat, auf einmal wieder so eine große Rolle spielen soll, – warum eigentlich? – ist dieses Buch ein Labsal für alle, die ahnen, sicher nicht wissen, wie schwer es ist, von einem Tag auf den anderen in ein fremdes Land zu gehen.

„Dass ich diese Geschichte überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben.“