Linde Hagerup: Ein Bruder zu viel, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2019, 144 Seiten, €14,95, 978-3-8369-5678-9

„Denn das hatte ich inzwischen begriffen.
Dass Steinar uns eigentlich irgendwie leidtun musste.
Im tiefsten Herzen wusste ich das.
Obwohl ich es nicht laut sagte.
Man muss ja nicht immer alles laut sagen, was man weiß.
Ich wusste auch, das Steinar Leute brauchte, zu denen er mit seinem Gejammer gehen konnte.
Ich konnte es nur nicht ertragen, dass ausgerechnet wir das sein mussten.
Aber wir waren das und wir würden es auch bleiben.“

Konsequent aus der Sicht der neunjährigen Sara erzählt Linde Hagerup von den Geschehnissen in ihrer Familie. Saras Eltern arbeiten viel, nehmen sich aber auch Zeit, um mit den Kindern, Sara hat noch eine ältere Schwester, liebevoll zu kuscheln, Bücher vorzulesen oder gemeinsam Filme zu sehen. Als die enge Freundin von Saras Mutter plötzlich stirbt, hinterlässt sie den fünfjährigen Steinar, den Sara überhaupt nicht mag. Beide Kinder kennen sich von gemeinsamen Festen und immer spielt sich der Junge, den Sara egoistisch, verwöhnt und nervig findet, in den Mittelpunkt.
Nach der Beerdigung, das hatten Saras Eltern und die Freundin seit Steinars Geburt so besprochen,
kommt der Junge in die Familie. Sara ist entsetzt und völlig gegen Steinars Einzug. Zu allem Unglück muss sie auch noch mit Steinar ihr Zimmer teilen. Nun ist sie nicht mehr die Kleine, die von Mama und Papa umsorgt wird. Steinar wacht oft auf und ruft nach seiner Mama und diese ist nun Saras Mama. Sara kann sich zu keinem guten Wort für Steinar durchringen, obwohl sie ahnt, was der kleine Kerl durchmacht. Er bringt für sie nur alles durcheinander, er stört in allem, was er auch anstellt. So gibt es auf einmal jeden Tag Schokocreme zum Frühstück, nur weil Steinar es so fordert. Und die Eltern, die auf eine gesunde Ernährung achten und Schokocreme ansonsten nur selten genehmigen, sagen zu allem, was das Kind will, ja.
Jeder Satz, den er sagt, beginnt mit: Ich will….
Emilie kann viel eher Empathie mit dem kleinen neuen Bruder empfinden.
Als Sara ihre Eltern belauscht, schnappt sie auf, dass diese denken, dass für Steinar ein großer Bruder vielleicht besser gewesen wäre. Aber nun ist es, wie es ist. Auch wenn der Papa von Sara erwartet, dass sie ihren neuen Bruder lieb haben soll, Sara kann sich nicht überwinden den Eindringling als ihren Bruder anzuerkennen. Sie könnte es nur als eine andere Person und in diese verwandelt sich das Mädchen. Sie schneidet ihre langen Haare ab und nennt sich von nun an innerhalb der Familie Alfred und behauptet, sie sei der ältere Bruder von Steinar.
Nur durch diesen Identitätswandel erträgt sie die Anwesenheit des fremden Kindes, das für sie der Eindringling in die für sie so harmonische Familienwelt ist.
Alle in der Familie sind geschockt, nur Steinar nimmt Alfred als Bruder an. Auf dieser Basis schaffen es die beiden Kinder, dass sie ins Gespräch kommen, gemeinsame Spiele spielen und einen Draht zueinander finden. Alfred kann zu Steinar freundlich sein, obwohl er am Tisch sabbert, rumheult und quengelt. Sara könnte es nicht.
Schnell gehen die Eltern auf Saras Scharade ein, nur Emilie glaubt, dass Sara den Verstand verloren hat.
Doch dann entbrennt zwischen Alfred und Steinar ein Kampf um die kleinen Geschenke im Adventskalender und wieder versucht Steinar, der sich an Alfreds bestem Geschenk am 1. Dezember bereits vergreift, seinen Willen durchzusetzen. Als er dies sogar mit der Hilfe seines neuen Papas schafft, scheint die Schmerzgrenze, was Gerechtigkeit und Rücksichtnahme aus der Sicht von Sara anlagt, überschritten. Auch Saras Papa weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Er hätte sich diesmal auf Saras Seite stellen müssen.

Trotz aller guten Absichten, auch Erwachsene sind fehlbar und sie können trotz Verstand und Gewissen nicht alles von ihren Kindern heutzutage verlangen. Einem Kind zu sagen, es müsse das neue Familienmitglied annehmen und lieben, funktioniert einfach nicht. Sara weigert sich vehement, aber sie weiß auch, dass sie mit der neuen Situation irgendwie umgehen muss. Und keine Frage, Kinder können absolut grausam sein und sie haben ihre eigenen Regeln, um sich zu wehren oder auch nicht.
Linde Hagerup treibt es in ihrer Geschichte nicht zum Äußersten, aber sie zeigt auch, dass Steinar Erfahrungen im Kindergarten machen muss, die einfach wehtun.