Donato Carrisi: Haus der Stimmen, Aus dem Italienischen von Susanne Van Volxem und Olaf Roth, Atrium Verlag, Zürich 2023, 348 Seiten, €25,00, 978-3-85535-123-7

„Es gab eine Beziehung zwischen seinem Vater und Hanna Hall, so viel war sicher. Denn jedes Mal, wenn er an ihn dachte, gingen seine Gedanken unweigerlich auch zu ihr. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, musste er die Therapie fortsetzen, musste er sie davon überzeugen, dass es Ado nie gegeben hatte. Nur so konnte er sie von dem Glauben befreien, ihn umgebracht zu haben.“

Er wird in Florenz „der Kinderflüsterer“ genannt, Pietro Gerber, Anfang dreißig, Kinderpsychologe und Experte für Hypnotherapie. Immer wieder wird er vom Jugendgericht zur Rate gezogen. Aktuell beschäftigt ihn der Fall des sechsjährigen Emilian, einem Adoptivkind aus Weißrussland, das in seiner frühen Kindheit wirklich Schreckliches erlebt hat. Doch dann erreicht ihn ein Anruf aus Australien und dieses Gespräch mit der Therapeutin Theresa Walker wird sein ganzes Leben völlig verändern.

Die Lesenden wissen, bevor die Handlung um Gerber beginnt, dass zwei möglicherweise sehr verwirrte Erwachsene mit ihrem Kind unterwegs sind und an ihrem Standort einen Brand auslösen, da angeblich Fremde sie überfallen wollen.

Durch diesen Anruf aus Adelaide begibt sich die dreißigjährige Australierin Hanna Hall, sie wurde angeblich von einem australischen Paar mit zehn Jahren adoptiert, in die Therapie bei Gerber. Sie leidet unter Selektiver Amnesie. Von Anfang an fühlt sich Gerber verunsichert, denn immer wieder scheint eher Hanna, die wenig Grenzen kennt, das Fragen zu übernehmen. In Gerbers Praxis gibt es einen verschlossenen Raum, den Hanna einfach öffnet. Hier hatte Gerbers Vater, den alle nur Herrn B. nennen, ebenfalls als Kinderpsychologe praktiziert. Als er vor drei Jahren verstorben ist, muss zwischen Vater und Sohn etwas geschehen sein, von dem Gerber nicht mal seiner Frau Silvia erzählen kann. Seltsam übergriffig verhält sich Hanna auch zu Gerbers dreijährigem Sohn Marco. Sie spricht über ihn und bringt ein Geschenk mit. Gerber glaubt, dass Hanna ihn ausspioniert hat. Wer beeinflusst wen, wer manipuliert wen? Ist Hanna schizophren? Sie glaubt, dass sie ihren Bruder Ado getötet hat.

In der Hypotherapie erzählt Hanna von ihrer Kindheit, die ihr in der Erinnerung wie ein Abenteuer vorkommt. Gerber versucht herauszufinden, warum Hannas Eltern ohne Kontakt zur Außenwelt existierten. Sie zogen einst von leerem Haus zu leerem Haus in der Toscana, stellten Regeln für das Kind auf und waren auf ihre verrückte Weise auch glücklich. Ohne zur Schule zu gehen, ohne Halt und ohne Namen existierten sie als Eremiten und trugen immer eine Kiste mit sich, in der offenbar ein totes Kind lag. Gerber versucht den unsichtbaren Panzer zwischen seiner Patientin aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig doch Empathie zu empfinden. Dass Hanna ihm die nikotinsüchtige, leicht verlebte junge Frau nur vorspielt, wird sich im Laufe der Handlung herausstellen. Weiterhin gibt es zwar eine Therapeutin namens Walker in Adelaide, aber mit ihr hat Gerber nie telefoniert. Und dann wird auch noch aufgedeckt, dass Hanna Hall nie adoptiert wurde, sondern zu ihren wahren Eltern nach Australien im Alter von zehn Jahren zurückgekehrt ist. Was ist wahr, was ist nur falsche Erinnerung, was glaubt man, scheint wirklich geschehen zu sein? Was will Hanna Hall von Pietro Gerber, was verbindet beide?

Die Geschichte, die sich dann aus all den Erzählungen und Erinnerungen herausschält, ist so unglaublich, dass sie einfach gelesen werden muss.

Zum einen geht es um den Umgang mit Patienten in psychiatrischen Kliniken, um Kindesentführungen und vor allem um die Frage, wer dieser Ado eigentlich ist. In einem Verwirrspiel aus ungeheuren Erzählungen unter Hypnose, die ein Kind an den Rand des Wahnsinns hätten bringen können, den gegenwärtigen Ereignissen und Pietro Gerbers Beziehung zu seinem Vater fesselt diese gut konstruierte Geschichte den Lesenden an das Buch bis zur letzten Seite.

Ungeheure Sogwirkung einer Geschichte über Kinder, die Grenzerfahrungen seelisch nie unbeschadet verkraften.