Eva Sichelschmidt, Die Ruhe weg, Knaus Verlag, München 2017, 320 Seiten, €15,99, 978-3-8135-0742-3

„Sie schämte sich jetzt für alle Höhepunkte der letzten Wochen, für die Sache mit Ralf, für den ganzen Lug und Trug und die Heimlichkeiten. Sie hatte sich ihrem eigenen Leben gegenüber so erhaben gefühlt, und dann war sie in einem einzigen Augenblick vor sich selbst der Länge nach in den Dreck geschlagen.“

Sie sind zwar keine „Ökoschwaben“ mit gut bezahlten Jobs oder gut betuchten Eltern, aber dafür doch die typischen Bewohner des Prenzlauer Berges mit künstlerisch – intellektuellem Hintergrund oder das, was sie dafür halten. Marlies, Till und ihre Kinder Annie und Jan leben im Bötzowviertel in einer kleinen Eigentumswohnung, die die Eltern dann doch gesponsert haben. Marlies mit ihren gut fünfzig Jahren finanziert als freiberufliche Mitarbeiterin bei einer Zeitschrift das Familienleben und wünscht sich eigentlich ein besseres Einkommen, verständlich, denn von Zeitungshonoraren kann man sicher keine vierköpfige Familie ernähren. Der lethargische Till, der am liebsten auf dem Sofa liegt, schläft oder zu einer sauteuren Therapeutin wegen seiner Antriebslosigkeit geht, jobbt als Auswechselgitarrist in einem Musicaltheater für wenig Geld. Aber er kümmert sich zumindest am Morgen um die Kinder. Die etwas dickliche zwölfjährige Annie, eigentlich Anouk, ist eine enthusiastische Sachensammlerin und ein etwas chaotisches Kind, im Gegensatz zum leicht autistischen Bruder Jan, der absolut penibel, kontrolliert und offenbar hochbegabt ist. Um der Alltagsroutine zwischen Haushalt und nervigen Prenzlauer Berg – Müttern zu entkommen, lässt sich Marlies auf eine Affäre mit ihrem unbehaarten, muskulösen Yogalehrer Ralf ein. Möglicherweise ein besserer Liebhaber als Till versüßt er der guten Marlies die hart erkämpfte freie Zeit.

Mit sehr ironischem Blick und trockenem Humor beobachtet Eva Sichelschmidt ihre Protagonisten und schickt sie auf dubiose Erfahrungsreisen, Marlies und Annie nach Rom und Till und Jan zu Freund Jost nach Moabit. Nachdem Till durch Jans Kombinationsfähigkeit hinter den Inhalt ihrer SMS von Ralf gelangt ist, hängt der Haussegen schief. Dann bekommt Marlies ein Arbeitsangebot, das sie nicht abschlagen kann, bei einer Internetplattform und entschließt sich, ohne Absprache mit ihrem Noch-Ehemann den Job in Rom anzunehmen. Erneutes Familienchaos! Allerdings nimmt sie nur Annie mit, denn Jan, der auch noch sauer auf seine Mutter ist, bleibt beim schmollenden Vater, der nun beengt bei seinem Musikerfreund in Moabit wohnt. Richtig glücklich dort ist auch nur Jan, der in Yassar einen fast sprachlosen Freund gefunden hat. Ob der Job in Italien mit Treffen alter Freunde so die ideale Wende in Marlies‘ neuem so hippen Leben sein wird, lassen wir mal offen. Klar ist, dieser Roman beginnt mit wirklich ironisch beißend witzigen Beschreibungen von modernen Lebensgefühlen und – modellen, verheddert sich dann aber in abgegriffenen Klischees und der Sommerhitze Roms und Berlins und mündet in einem unglaubwürdigen Happy End. Marlies als moderne Frau ist zwar mutig, aber auch etwas naiv, sie ist sehr lebendig, aber auch bequem – eine widersprüchliche interessante Figur, von der man noch mehr lesen möchte. Und beim Lesen darf gelacht werden, z.B. wenn es um haargenaue Beobachtungen wie diese geht:

„LOVE und HATE hatte sie sich auf ihre Fingerknöchel tätowiert. Warum sich die Leute nur alle beschriften ließen, bis sie aussahen wie bekritzelte Klotüren auf dem Hauptbahnhof.“

Eva Sichelschmidt betreibt in Berlin das Geschäft „Whisky & Cigars“, sie ist Repräsentantin des Auktionshauses Grisebach und, wie der Klappentext mitteilt, mit dem Dichter Durs Grünbein verheiratet.