Mattias Edvardsson: Die Lüge, Deutsch von Annika Krummacher, Limes Verlag, München 2019, 541 Seiten, €15,00, 978-3-8090-2705-8

„Man kann niemanden wegen Mordes verurteilen, wenn es zwei potentielle Täter gibt und sich weder beweisen lässt, wer von ihnen den Mord begangen hat, noch dass sie die Tat gemeinsam und im Einverständnis begangen haben.“

Die neunzehnjährige Stella Sandell steht in Lund vor Gericht, denn sie soll angeblich den dreiunddreißigjährigen Chris Olsen mit mehreren Messerstichen ermordet haben. Adam, Stellas Vater, muss vor Gericht aussagen, denn er hat der Tochter ein Alibi verschafft. Der Leser weiß, sie ist nicht um 23.45 Uhr nach Hause zurückgekehrt, sondern erst um 2.00 Uhr. Aber dies ist nicht die einzige Lüge, die in diesem absolut aufwühlenden wie spannenden Thriller erzählt werden wird.

Aus den jeweiligen Perspektiven von Adam, Stella und Stellas Mutter Ulrika erzählt der schwedische Autor Mattias Edvardson nun vom Leben dieser ganz normalen Familie. Stellas Vater ist ein angesehener Pfarrer und Ulrika arbeitet als Rechtsanwältin. Stella wurde geboren, da waren ihre Eltern noch in der Ausbildung. Zu gern hätten Ulrika und Adam ein Geschwisterchen für Stella gehabt, aber nach vielen vergeblichen Versuchen verabschieden sich von ihrem Kinderwunsch.
Stella entwickelte sich zu einem ausgesprochenen Papa-Kind, denn Adam nimmt sich viel Zeit für die Tochter. Ulrika vergräbt sich eher in ihre Ausbildung und auch Karriere. Keine Frage, Eltern wollen alles absolut richtig machen und doch geschehen auch in den besten Familie unvorhersehbare Entwicklungen.
Durch die persönlichen Erzählungen der Hauptfiguren und diesen ungefilterten Blick ins Innenleben von Adam, Stella und Ulrika kann sich der Leser ein gutes Bild machen.
Stella, und das wird bereits in den Reflexionen von Adam deutlich, verliert schnell die Geduld und reagiert mit Gewalt, wenn ihr etwas nicht passt. Von klein an schlägt Stella zu, wenn sie einen Konflikt nicht lösen kann. Sogar ihrer besten Freundin von Kindergartentagen an verpasst sie eine harten Schlag, als diese etwas über sie ausplaudert. Stella entwickelt sich zu einer starken, extrem egoistischen nicht gottgläubigen Persönlichkeit mit einem starken Verstand, die sich einfach nicht unterordnen oder einordnen kann. Sie beendet ihre Sportlerkarriere beim Handball, weil sie für ihre Alleingänge in der Gruppe immer wieder kritisiert wird. Ab dem vierzehnten Lebensjahr hält sie sich für autonom. Ihre Eltern spüren, dass sie sie irgendwie verloren haben. Stella konsumiert Drogen, hängt mit irgendwelchen Gangs ab und lässt sich nichts mehr sagen. Adam reagiert auf ihr Verhalten mit paranoider Kontrolle, die beider gutes Verhältnis fast völlig ruiniert.
Stella gerät langsam auf die schiefe Bahn, muss Therapien über sich ergehen lassen und ahnt, dass ihre Eltern den Namen einer Krankheit, nämlich mangelnde Impulskontrolle, benötigen, um wieder ruhig schlafen zu können. Doch Stella hat keine Lust, die brave Pfarrerstochter zu spielen und sie weiß, dass ihre Mutter sich mit der sanften Amina viel besser versteht als mit ihr. Doch in der jungen, energiegeladenen wie lebenshungrigen Frau schlummert auch ein gutes Herz, Empathie für ihre Freundin und eine geschundene Seele, die über vieles nicht hinwegkommen wird.
Stella langweilt sich unendlich und findet erstes Interesse an sexuellen Spielchen. Als sie auch auf Drängen des Vaters in ein Ferienlager der Kirche mitfährt, wird sie von einem der Erwachsenen vergewaltigt. Da Adam seinen Kontrollzwang nicht beherrscht, sucht er Stella in dem Lager auf und entdeckt die brutale Tat. Hier, und das wird ebenfalls eine der Lügen sein, duckt sich Adam ab und zeigt die Vergewaltigung nicht an. Er will, so die Begründung, Stella nicht der Tortur eines Prozesses ausliefern, denn Stella ist freiwillig mit diesem Mann mitgegangen und es wird behauptet, sie wollte ihn verführen. Ulrika kann ihren Mann nicht verstehen, vergräbt immer mehr in der Arbeit und beginnt eine Affäre mit einem Kollegen.

Als Stella, die nun in Isolationshaft sitzt, an die Zeit ihrer Kindheit und Jugend zurückdenkt, ergibt sich plötzlich ein anderes Bild als bei Adam. Sie ist arrogant, manipulativ und extrem aggressiv. Als der Gefängniswärter Jimmy sie in die Enge drängt, weiß sie sich zu wehren. Ihre Intelligenz und ihre extrem unterkühlte Sicht auf die Dinge spürt der Leser auch bei ihren Gesprächen mit der Psychologin. Stella hat wenig Interesse an guten Schulnoten, sie ist gelangweilt, sucht dan dem Kick und plant ihre Asienreise, um einfach nur weg zu sein. Als sie dann den erfahrene Chris auftaucht, ändert sich für Stella einiges. Allerdings ist nicht er, derjenige der den Lauf ihrer Beziehung bestimmt, sondern sie.
Als Chris ehemalige Freundin behauptet, es sein ein Psychopath, glaubt ihr niemand, denn Chris‘ Mutter ist eine angesehene und einflussreiche Professorin für Strafrecht.

Durch den gesamten Roman zieht sich die Frage, wer hat Chris nun ermordet. War es seine durchgeknallte, sich rächen wollende Ex-Freundin, war es vielleicht doch Stella, die einfach keine Grenzen kennt? Waren es die geprellten polnischen Arbeiter, die Chris als Geschäftsmann über den Tisch gezogen hat?
Nach außen scheint die Familie Sandell intakt und völlig normal zu sein, schaut man jedoch hinter die Fassade, dann kippt dieser Eindruck. Stella hat viele Geheimnisse, die sie ihren Eltern nicht anvertraut und sie fügt sich nicht mehr den Anpassungsforderungen des Vaters, der als Pfarrer eine gewisse Reputation haben will. Die Eltern wollen die Schwächen ihres Kindes nicht sehen und können doch auch nichts mehr beeinflussen. Stella will ihre Eltern in der Untersuchungshaft nicht sprechen, erst im Gerichtssaal werden sie sich wiedersehen. Doch wie eng ist so ein Band zwischen Eltern und Kind, was kann man einander zumuten und was können alle aushalten?
Durch die Selbstaussagen der Figuren entsteht ein ambivalentes Bild von Adam, Stella und Ulrika und alles fügt sich zu einer plausiblen Geschichte bis zum überraschenden Ende. Und eins wird ganz klar, Stella und Ulrika haben mehr gemeinsam als man denkt.

Vielleicht hätte Mattias Edvardsson nicht alles unbedingt auserzählen müssen, als könnte der Leser sich nicht auch zwischen den Zeilen einiges denken. Egal, unglaublich anregender Thriller ohne sinnlose Brutalität und wahre innerfamiliäre Konflikte!!