Christelle Dabos: Die Verlobten des Winters – Band eins der Spiegelreisenden-Saga, Aus dem Französischen von Amelie Thoma, Insel Verlag, Berlin 2019, 535 Seiten, €18,00, 978-3-458-17792-0

„Übrigens wurde Ophelia bewusst, dass niemand sich hier wirklich mochte. Die Miragen missbilligten Berenildes Anwesenheit unter ihnen, doch sie begegneten auch Archibald und seinen Schwestern, von denen doch ihr Leben abhing, mit Argwohn. Man lächelte viel, aber die Blicke waren unaufrichtig, die Sätze voll versteckter Anspielungen, die Luft vergiftet. Jeder misstraute jedem, und alle feierten bis zur Besinnungslosigkeit, um ihre Angst voreinander zu vergessen.“

Der jungen Heldin dieser Geschichte, Ophelia, steht ein schweres Los bevor. Konnte sie auf ihrer Arche Anima ( Die Welt hat sich in Archen aufgeteilt, die zum Teil in der Luft schweben. „Der Weltkern ist das größte Überbleibsel der ursprünglichen Erde…“ ) noch selbst über ihr Leben bestimmen und aus eigener Kraft ihr Leben bestreiten, so endet sie zumindest am Ende des ersten Bandes als verkleideter männlicher Page, obwohl sie die Verlobte eines Höflings ist, in einer Welt voller Neid, Gewalt und Feindschaft der einzelnen Klans. Diese erkennt man an den Tätowierungen, z.B. an den Händen.

Die unscheinbare junge Frau, die durch Spiegel gehen kann und mit den Händen Gegenstände lesen, spricht leise, hat ständig wirres Haar, trägt eine dicke Brille und ist äußerst tolpatschig. Ein Spiegelunfall hat ihren Körper deformiert. Aber sie hat auch einen ganz unschätzbaren Vorteil, ihre Natürlichkeit. Es ist eine seltsame Gesellschaft, die die Archen besiedelt. Man fliegt im Zeppelin, die Kleidung und Perücken setzten sich aus Versatzstücken des Rokoko zusammen, es gibt Telefone und Telegramme, Fachwerkfassaden und Straßenbahnen. Ophelia leitet ein kleines Museum für Ur- und Frühgeschichte und arbeitet gründlich und detailversessen. Sie kann nicht fassen, dass ihre Mutter und die sogenannten Doyennen sie an einen Mann verschachern, der fernab auf der eiskalten Arche Pol wohnt. Riesig groß, dürr, arrogant und maulfaul ist dieser Mann,der Thorn heißt und dazu noch ein Zahlenmensch, Bastard und Höfling ist. Kaum ist er in Anima gelandet, so reist er mit Ophelia und ihrer temperamentvollen Tante Roseline, als Anstandsdame schon wieder Richtung Eisland Pol. Das Verlobungsjahr muss eingehalten werden, dabei sind die Verlobten sich völlig fremd. Niemand redet mit Ophelia, nur ein einziges Mal erwähnt Thorn, dass Ophelia das Hofleben eventuell nicht überleben wird. In Himmelsburg angekommen, soll Ophelia Thorns Tante, Dame Berenilde aus der Familie der Drachen mit entsprechenden Krallen Gesellschaft leisten. Seltsam ist, dass nichts in diesem Land echt ist, vieles ist einfach nur eine optische Täuschung. Es gibt starke Hierarchien und Dienstpersonal, was Ophelia von Anima einfach nicht kennt. Sie entdeckt nach und nach, dass Thorn ist auserwählt hat, weil sie natürlich und hoffentlich auch furchtbar ist. Für Ophelia ist das fast wie eine Beleidigung, zumal sie das Leben der Frauen am Hofe einfach nur langweilig findet.
Thorn jedenfalls ist am Hof ziemlich unbeliebt, da er der Rechnungsführer im Königreich ist.
Ophelia fühlt sich den Launen von Berenilde, die vom Familiengeist schwanger ist, ausgeliefert. Sie soll sich unbedingt verstecken und auch Tante Roseline darf nicht auffallen. Zu groß ist die Angst vor den verfeindeten Familien. Ophelia ahnt, dass sie in einer Schlangengrube gelandet ist und ihre Familie keinen ihrer Briefe erhalten wird. Thorn hat außerdem einen Menschen getötet, der seinen Plänen im Wege stand. Um aus der Gefangenschaft zu entfliehen, versucht Ophelia ihre überirdischen Fähigkeiten spielen zu lassen, aber auch das ist schwierig. Sie läuft sogar dem gefährlichen Botschafter in die Arme, der schnell erkennt, wer sie ist. Unverblümt erzählt er ihr, dass er sie, bloß um Thorn zu verärgern, gern verführen würde.
Raue Sitten, Stammesdenken und brutale Umgangsformen regieren den Pol. Sogar Thorns Halbschwester Freya versucht Ophelia, Gewalt anzutun. Ophelia ist entsetzt, als sie erfährt, mit welchem Ziel diese Ehe geschlossen werden soll. Sie soll ihrem künftigen Ehemann ihren Animismus verleihen und er gibt ihr seine Krallen.
Die einzige Vertrauensperson für Ophelia soll die unsympathische Dame Berenilde sein. Thorn erkennt, dass sein Schweigen Ophelia in größte Schwierigkeiten bringen könnte. Sicher sind beide kein Traumpaar, aber langsam taut das Eis zwischen den beiden.
Als der Botschafter dann die hochschwangere Berenilde dann in sein Haus, den Mondscheinpalast beordert, muss Ophelia und Tante Roselinde mit. Aber Ophelia wird in einen Mann verzaubert, was ihr mehr als recht ist. Wie immer neugierig hört Ophelia von einem Buch, dessen Übersetzung mehr als schwierig ist.

Zauberkräfte der Klans, seltsame Sinnestäuschungen, eigenwillige schillernde starke Figuren und ein Paar, dass sich irgendwie finden könnte, sind die Grundpfeiler dieser Geschichte, die sprachlich auf jeden Fall aus der Massenware der Fantasyliteratur herausragt. Noch zwei Bände sind angekündigt und wer Freude an dieser illusionären Welt voller Untiefen und Geheimnisse hat, der sollte weiterlesen.