Claudia Piñeiro: Kathedralen, Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag, Zürich 2023, 320 Seiten, €24,00, 978-3-293-00592-1

„Alle Mitglieder der Familie haben sich ihre Rollen ausgesucht. Auch Ana, so unschön sich das anhört. Auch Ana. Sie war siebzehn. …. Vor und nach ihrem Tod haben wir alle Dinge getan, die uns letztlich dahin gebracht haben, wo wir heute sind.“

Die Polizei in Buenos Aires hat nie akribisch gearbeitet. Sie haben die Aussage von Marcela Funes, der besten Freundin von Ana, nicht ernst genommen. Alles ist irgendwie versandet und das Leben ging dann seit dreißig Jahren einfach weiter. Als Ich – Erzählerin beginnt Lía, eine der Schwestern von Ana, zu erzählen. Ana wurde mit ihren nur siebzehn Jahren bestialisch ermordet. Gefunden auf einer Müllhalde, hatte man ihr den Kopf und die Beine abgetrennt und versucht, den Leichnam zu verbrennen. Wurde sie vergewaltigt und getötet? Im Laufe der Handlung wird klar, dass dies alles nicht geschehen ist.

Lía jedenfalls konnte nach dem Tod der jüngsten Schwester nicht mehr an ihrem katholischen Glauben festhalten. Sie löste sich von der Kirche und somit auch von ihrer Familie. Ihre verbitterte Mutter wird ihr nie verzeihen. Weit fort in Spanien, in Santiago de Compostela betreibt sie nun einen Buchladen und hofft immer noch darauf, dass der Tod ihrer Schwester aufgeklärt wird. Brieflichen Kontakt hat sie nur mit ihrem Vater Alfredo, jedoch mit der Vorgabe, keine familiären Informationen zu erhalten. Als dann plötzlich Lías älteste, verhasste Schwester Carmen mit ihrem Ehemann Julián vor der Tür steht, kann sich Lía der Begegnung nicht entziehen. Die gut vier Jahre ältere Carmen zeigt in der Öffentlichkeit ein freundliches, hilfsbereites Gesicht, im Privaten jedoch ist sie fanatisch gläubig, tyrannisch, gehässig und egoistisch. In einem Nebensatz erwähnt sie den Tod des Vaters und will nur, dass Lía ihr hilft, ihren einzigen Sohn Mateo zu finden. Mateo versucht sich aus der Umschlingung der Eltern, der Vater ist ein abtrünniger Priester, zu befreien. Bei seiner Europareise besichtigt der Architekturstudent die berühmten Kathedralen, die für die Ewigkeit stehen. Dass Mateo längst sein Studium gewechselt hat und nun Psychologie studiert, wissen die Eltern nicht. Sein Großvater Alfredo, der um das Geheimnis in der Familie kurz vor seinem Tod erfahren hat, hat ihm für seine Tante, die er nie kennengelernt hat, Briefe mitgegeben.

Die argentinische Autorin Claudia Piñeiro lässt all ihre literarischen Figuren aus ihrer Perspektive von den Geschehnissen rund um Anas tragischen Tod erzählen. Wird Anas Tod in Mateos Gegenwart nie erwähnt, so plagt sich Anas Freundin Marcela jeden Tag mit ihren Erinnerungen. Sie war die letzte die Ana gesehen hat, bevor ihr in der Kirche ein Unfall das Gedächtnis nahm. Ohne wirkliches Kurzzeitgedächtnis ist die Frau völlig hilflos. Allerdings weiß sie, dass Ana in der Kirche in ihren Armen gestorben ist. Doch woran und was ist danach geschehen? Auch der ehemalige ermittelnde Polizist, damals noch neu im Amt, kommt zu Wort. Ihn hat Anas Schicksal immer verfolgt und nun beginnt er, neu zu recherchieren.

Zwischen Trauer, Moral, Unmenschlichkeit, einem Glauben, der alles verzeiht, Scheinheiligkeit und fehlendem Gewissen pendeln die Protagonisten hin und her. Jedem gesteht die Autorin zu, seine Sicht der Geschehnisse zu offenbaren, auch den Tätern.

Fesseln schreibt die argentinische Schriftstellerin, psychologisch genau und vor allem wirft sie Fragen auf, die sich nicht nur katholisch geprägte Gesellschaften stellen müssen.