Annette Mingels: Der letzte Liebende, Penguin Verlag, München 2023, 304 Seiten, €24,00, 978-3-328-60295-8

„Er wusste bereits, dass er nicht würde schlafen können. Wenn er die Augen schloss, war es, als stürzte er in einen vollkommen leeren Raum, mit nichts drin, das ihm Auftrieb gab.

So würde er also ab jetzt leben müssen: ohne Hoffnung und Hingabe, dem unausweichlichen Ende zu.

So weit, so klar.

Aber wie um alles in der Welt sollte das gehen?“

Carl Kruger lebt mit seiner Frau Helen in New Jersey. Allerdings haben sie, nachdem sie ihr Haus verkauft haben, eine Maisonettewohnung erworben, in der er sich im unteren Teil und sie sich im oberen Teil eingerichtet haben. Ihre Ehe ist schon seit langer Zeit unglücklich, denn Carl konnte es als Universitätsprofessor nie lassen, Affären mit Studentinnen zu beginnen. Und sie vermochte es nie, sich von ihm zu trennen.

„Sie hatten beide immer getan, als gäbe es eine zweite Chance. Als wäre dieses Leben die Generalprobe fürs nächste. Jetzt war es vorbei, die eine Möglichkeit vertan, und es war seine Schuld, das wusste er.“

Demnächst wird er nun achtzig und Helen kämpft ziemlich einsam gegen den Krebs an. Tochter Lisa kümmert sich rührend um die Mutter, beide ignorieren Carl.

In Rückblicken erinnert sich Carl an viele Episoden aus seinem Leben. Annette Mingels hat für ihren Handlungsverlauf, der sich in der Gegenwart über ein Jahre zieht, die personale Erzählform gewählt.

Einst aus der DDR kurz vor dem Bau der Mauer nach West-Berlin geflohen, lernte Carl Helen kennen. Beide gingen aufgrund eines Angebots der Princeton University in die USA. Da Helen keine Kinder bekommen konnte, adoptierten sie Lisa.

Carl geht gern in die Kneipe um die Ecke, wo er mit dem Wirt Ian plauscht. Er fühlt sich in gewisser Weise nutzlos, ausgegrenzt. Als ein ehemaliger Bekannter und Freund ihm berichtet, dass er einen Roman geschrieben hat, erfüllt ihn das mit Neid. Später allerdings empfindet er Ärger, denn die Hauptfigur mit ihrer Vorliebe für junge Frauen gleicht ihm selbst auf unheimliche Weise.

An Carls Seite spazieren die Lesenden mit ihm durch Montclair, auch New York, erleben mit ihm den Tod seiner Frau Helen und seinen achtzigsten Geburtstag. Die Familie schenkt ihm als Überraschung eine Reise in die „alte Heimat“, die für ihn einerseits Ostdeutschland ist und zum anderen aber auch Polen.

Mit Lisa und seinem erwachsenen Enkel Collin fliegt Carl, ohne großen Enthusiasmus, nach Berlin und reist nach Windisch, seinem Geburtsort. Hier leben noch zwei seiner Brüder. Konrad liegt im Sterben, verweigert als fanatischer Sozialist jedoch jegliches freundliches Gespräch mit dem Bruder. Nur Hermann, der im Elternhaus lebt, öffnet seine Tür für die amerikanische Familie. Alle werden auch nach Zoppot, nach Polen reisen, den Ort, aus dem Mutter stammte.

Carl durchlebt Tiefen und Höhen, erleidet sogar einen Herzinfakt und wird am Ende ebenfalls von Lisa umsorgt und sucht sich sogar einen alten Hund, um den er sich kümmern kann.

Annette Mingels ist eine außerordentlich genau Beobachterin, die in wunderbaren Sätzen das Seelenleben dieses alten und doch innerlich noch so lebendigen, wie ambivalent handelnden Mannes einfängt. Es ist ein tröstlicher und atmosphärisch dichter Roman mit melancholischen Szenen, aber auch starken, dem Leben zugewandten Momenten, geworden, den man am Ende eigentlich gar nicht zuschlagen möchte.