Christoph Peters: Krähen im Park, Luchterhand Verlag, München 2023, 320 Seiten, €24,00, 978-3-630-87752-5

„Zwei Liebende mit kreativen Potenzialen und überschaubaren Bedürfnissen brachten sich immer irgendwie durch. Doch, sobald ein Kind da war, änderte sich alles. Als Erstes explodierten die Lebenshaltungskosten: Gesunde Ernährung war zentral, also kauften sie im Biomarkt statt im Discounter; Weichmacher konnten Kreidezähne oder Unfruchtbarkeit nach sich ziehen, deshalb musste alles, was Leonie in die Hand nahm, am Leib hatte, aus schadstoffgeprüften Naturmaterialien sein. Urban verdiente fast nichts, sie selbst war inzwischen vierunddreißig.Unaufhaltsam schwand das Kapital, von dem sie ein Jahrzehnt lang gelebt hatte: ihre Jugend.“

Irma hadert momentan mit ihrem Leben, denn sie muss, gegen den Willen ihres Lebenspartners Urban, ihr Kind sozusagen zum Markte tragen. Da sie als IT-Girl nicht mehr aktuell ist, soll ihr dreieinhalb Jahre altes Kind mit den schönen roten Locken für einen angesagten Modedesigner als Kindermodel Spaß haben. Insgeheim hofft Irma natürlich, dass auch sie als Model vielleicht doch angefragt wird. Da Leonie momentan in der Papa-Phase ist, muss Irma all ihre Überredungskunst aufbringen, um das Kind zu beruhigen. Irma hat sich in Richtung soziale Medien orientiert. Als Influencerin arbeiten ist allerdings auch kein Zuckerschlecken, wenn man damit Geld verdienen muss und für Stern-Artikel oder eine Kolumne im TIPP zahlen die Redaktionen keine horrenden Summen. Dabei sehnt sich Irma, wie so viele ach so freie Autorinnen nach einer Festanstellung, regelmäßigen Urlaubszeiten und vor allem Wertpapiere. Auch Urban hadert mit der Welt. Sein Debütroman war ein großer Erfolg, die Welt stand ihm offen. Doch der zweite Roman, der ja der schwerste ist, kam nicht so gut beim Publikum an und der dritte Roman will einfach keine Form annehmen. Aus der Provinz nach Berlin gezogen, hat auch die Stadt für ihn an Faszination verloren. Immerhin kann sich der zweiundvierzigjährige Autor, den der Baulärm in der Stadt maßlos nervt, in seine kleine Wohnung in der Danziger Straße, bezahlbar da Ofenheizung, zurückziehen.

Es ist das zweite Jahr Lockdown und der 9. November 2021.

Christoph Peters, ein stilsicherer Chronist der Gegenwart, erzählt witzig, bissig, tragikomisch und auch gefühlvoll von einem Tage in Berlin aus den Perspektiven unterschiedlichster Figuren, die alle ihre ganz eigene Meinung über die heutige Gesellschaft und ihren Zustand einbringen. Vom Architekten, einer Fluggastkontrolleurin, einer abgehalfterten Schauspielerin, die jetzt Events organisiert, einem Paketzusteller und seiner achtzehnjährigen Freundin, einer Psychologin, über einen erfolgreichen französischen, ziemlich unsympathischen Autor bis hin zu einem illegal nach Deutschland eingereisten Afghanen kommen alle zu Wort. Sie erzählen von sich, sie beurteilen, verurteilen, sind gnadenlos rassistisch, pflegen ihre Vorurteile, siegen oder scheitern im Moloch Berlin.

Ali Zayed hat es, so glaubt er, geschafft. Seine Fluchtroute führte ihn über Belorussland und Polen direkt nach Berlin. Er musste auf der Strecke viel Geld zahlen, doch nun hofft er auf einen Kontakt über einen Verwandten. In Berlin kennt er niemanden, in Afghanistan hätte er überall Verwandte, die ihn aufnehmen würden, auch wenn es nur eine Nacht wäre. Ärgerlich ist, dass er seinen Kontakt so gar nicht per Telefon erreichen kann. Sein Deutschlandbild ist von allen möglichen Vorurteilen geprägt, Berlin jedoch mit den zahlreichen Bettlern erscheint ihm so ganz anders als erwartet. Sein Tag wird nicht gut enden, denn die viel gepriesenen verwandtschaftlichen Kontakte scheinen in der westlichen Welt nicht funktionieren. Der sechsundzwandzigjährige Türke Emre ist glücklich. Seine Freundin Dina ist schwanger. Allerdings hat sie gerade Abitur gemacht und möchte Jura studieren.

Er träumt von einer kleinen Familie, die er ernährt und sie ist völlig verunsichert. Jeder sagt ihr, einschließlich ihrer herzlosen Mutter, die sich nie wirklich um sie gekümmert hat, dass sie abtreiben soll. Mag Emre ein noch so gutherziger Mann sein, die Schieflage in dieser Beziehung ist offensichtlich. Er hadert damit, dass sie Sex vor der Ehe hatten, aber mit dem Imam kann man da auch handeln. Der französische Autor Bernard Entremont ( Wer denkt da nicht nicht an Michel Houellebecq?) reist nach Berlin, da er einen Preis verliehen bekommt. Er wirkt aufgeblasen, arrogant, anmaßend und alle scharwenzeln um ihn herum, insbesondere die Mitarbeiter aus seinem deutschen Verlag. Urban hätte ihn gern interviewt, aber der alte Autor erwartet eine gutaussehende, natürlich junge Frau mit exzellenten Französischkenntnissen.

In diesem Roman treffen in einer Stadt Welten aufeinander, alltägliche Konflikte kollidieren mit Lebensentscheidungen und Vorstellungen, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Menschen nehmen zumindest in Gedanken kein Blatt vor den Mund und äußern vieles, was sie laut niemals sagen würden. Oder vielleicht doch, denn wie heißt es so schön: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Sind wir ungehemmt, da wir nun die Maske tragen und die Distanz mutiger macht? Und doch, es gibt immer noch eine Schamgrenze. Oder doch nicht? Christoph Peters spielt mit Figuren, die auf real existierende, politisch auch wichtige Personen hindeuten. Angeregt von Wolfgang Koeppens Werk, entwickelte Christoph Peters die Idee, Koeppens berühmte „Romantrilogie des Scheiterns“ aus den 50er-Jahren auf die Gegenwart zu übertragen. Nach „Der Sandkasten“ liegt nun dieser zweite Teil vor.

Sehr empfehlenswert!