Gustaf Skördeman: Geiger, Band 1, Aus dem Schwedischen von Thorsten Alms, Lübbe Verlag, Köln 2021,495 Seiten, €16,00, 978-3-7857-2737-9


„In diesen Ermittlungen gab es so viele Berührungspunkte mit ihrem eigenen Leben und ihrer Kindheit, aber im Grund betraf es alle Schweden. Die ganze Bevölkerung war mit Onkel Stellan als gemeinsamem Fixpunkt aufgewachsen, da er die einzige ungeteilte positive Kraft im Land war.“

Ganz Schweden kann es nicht fassen. Ihr unbeflecktes Idol, der berühmte und kultivierte Showmaster vieler Fernsehjahrzehnte, Stellan Broman, wurde im hohen Alter von achtzig Jahren hinterrücks in den Kopf geschossen. Da hatten er und seine Frau Agneta noch die Enkelkinder für eine Woche gehütet, damit die Töchter Malin und Lotta mit ihren Ehemännern Urlaub machen konnten und nun diese Tragödie. Doch die Leser wissen mehr als die Ermittler. Agneta hat einen Anruf erhalten, hat die Pistole aus dem Versteck geholt und ihren Mann, ohne zu zögern erschossen.
Auf der Flucht wird die Fünfundsechzigjährige als abgetauchte Schläferin noch mehrere Menschen kaltblütig ermorden.

Gustaf Skördeman entspinnt nun ein faszinierendes Szenario aus Geheimdiensten, ermittelnden Polizisten und Sara, die zwar Polizistin ist, aber an dem Fall privat interessiert ist.
Sara Nowak arbeitet mit David auf den Straßen Stockholms und spürt Sexkäufer auf, um diese in flagranti zu ertappen und zu bestrafen. Sie hat einen erfolgreichen Musikmanager geheiratet und wohnt mit ihren Kindern im Teenageralter in einer riesigen Wohnung. Geld scheint keine Rolle mehr zu spielen. Das war anders, als Sara mit ihrer Mutter bei den Bromans im Gartenhaus wohnte. Saras Mutter arbeitete als Putzfrau bei der Familie und Sara wuchs mit den verwöhnten Broman – Töchtern auf. Diese hatten alles, einen bekannten und umschwärmten Vater, eine fürsorgliche Mutter, tolle Kleider, viele Freunde und Sara war das arme Kind, mit dem Malin und Lotta spielen mussten. Und sie waren gemein zu Sara, wie Kinder nun mal sind, wenn sie Macht ausüben können. Alle diese Kindheitsszenen gehen Sara beim Ermitteln durch den Kopf. Je mehr Sara in der Vergangenheit der Bromans eintaucht, um so mehr Motive treten zu tage, warum Stellan ermordet wurde. Stellan wurde nach dem Fall der Mauer beschuldigt, als IM bei der Stasi gearbeitet zu haben. Doch nie wurde er deswegen befragt oder gar öffentlich zur Rede gestellt. Eine Historikerin konnte an Akten gelangen, die die schwedische Regierung immer noch unter Verschluss hält. Niemand hinterfragte Stellans gute Kontakte in die DDR. Dort hatte er Freunde und konnte hinter den Kulissen dazu beitragen, dass Schweden, als alle sich noch vom Trabantenstaat der UdSSR abwendeten, die DDR anerkannte. Und Stellan hatte ein perfides System entwickelt, um seine Ziele zu erreichen und hochrangige Regierungsmitglieder oder Leute vom Militär zu erpressen. Die Feste in seinem Haus waren berühmt. Jeder wollte bei seinen Motto-Partys dabei sein und mitfeiern. Da Stellan gern filmte, war es für ihn ein Leichtes, Prominente aus der Regierung in sein Haus zu locken und sie in bestimmten Szenen mit minderjährigen Jungen und Mädchen zu filmen und zu erpressen. Dass er vorher diese Kinder selbst vergewaltigt hatte, zeigen Schmalfilme, die Sara im Haus ausfindig machen konnte. Hochsensible Informationen konnten weitergegeben werden und infiltriert von DDR-Geheimdiensten und sowjetischen Kundschaftern bleibt vieles nicht im Verborgenen.
Immer tiefer sinkt die einst so bewunderte Familien in Saras Augen. Erschüttert ist sie von Lottas und Malins emotionslosen Reaktionen auf die Entdeckung der Filme im Haus der Eltern.
Alle suchen immer noch nach Agneta, die weiterhin den Ring der früheren Ostspione vernichtet.
Eine Explosion in Deutschland macht die Runde und die Tatsache, dass angeblich ein Terrorist in Schweden eingereist ist, der in der EU noch größeren Schaden anrichten wird.

Der Kalte Krieg ist nicht zu Ende, so die Botschaft dieses Thrillers. Chronologisch immer im Szenenwechsel berichtet der schwedische Autor nun von Agnetas persönlichem Hintergrund, den Ermittlungen Saras, aber auch ihres in die Schieflage geratenen Privatlebens, der Beziehung zu ihrer Mutter, den internationalen Behörden, die sich nun einschalten.

Hat Gustaf Skördeman die absolut spannende Handlung zu Beginn langsam sich steigern lassen, so überschlagen sich am Ende alle Informationen und offengelegten Identitäten einzelner Hauptfiguren. Der Gedanke an den Film „Salt“ mit Angelina Jolie drängt sich auf, wenn man vom Lebensweg Agnetas hört.
Mögen die Gefahren, gerade durch die „demokratisch“ gewählten Despoten wie Orban, Erdogan oder Putin, einem ehemaligen KGB-Mann, immer noch wie ein Damoklesschwert über den Bürgern Europas schweben, so scheint ein immer wieder neuer Konflikt die Menschheit in Atem zu halten.
Durch die Vermischung von Saras privatem und dienstlichem Leben, gewinnt die Handlung an Bodenständigkeit und Erkenntnisgewinn und versandet nicht in den undurchdringlichen Sphären der Geheimdienste.
Sara ist jedenfalls am Ende von ihrem Dienst suspendiert. Sie weiß nun, wer ihr Vater ist und sie kann die Mutter in einem völlig neuen Licht sehen. Angelegt auf eine Trilogie, hat „Geiger“ noch so einiges zu bieten. Man darf gespannt sein.