Maike Wetzel: Elly, Verlag Schöffling&Co., Frankfurt a.M. 2018, 148 Seiten, €20,00, 978-3-89561-286-2

„Heimlich bin ich wütend auf meine Schwester. Sie nimmt mir alles weg. Ich habe kein Recht fröhlich zu sein, wenn meine Schwester leidet, wenn sie vielleicht tot ist, wenn sie allein in einen Keller eingesperrt, vergewaltigt, ohne Sonne, ohne vernünftige Nahrung vegetiert. Elly ist weg. Es gibt nichts anderes, was zählt. Ich wünsche mir, ich könnte fortlaufen.“

Plötzlich ist sie fort, die elfjährige Elly. Ihr Weg zum Judo-Training endet im Nirgendwo. Die Polizei beschuldigt erst den Vater, dann die Mutter. Alle sind empört, aufgeregt, enttäuscht, hilflos.

Aus den Perspektiven von Ellys Familie, der Mutter Judith, des Vaters Hamid und der älteren Schwester Ines, erzählt Maike Wetzel in ihrem Debüt vom Entschwinden eines Kindes und den Qualen der Zurückgebliebenen. Was ist mit ihr geschehen? Welche Horrorszenarien spielen sich in den Köpfen der Eltern ab? Kann ein Detektiv, vom Vater engagiert, die Tochter aufspüren?

Zwischen den Eltern macht sich ein bedrückendes Schweigen breit, sie entzweien sich durch den Schmerz, ohne Absicht. Sie arbeiten freiberuflich und vergraben sich in Plänen, um die innere Leere zu füllen. Niemand kann die Familie trösten, nicht mal eine Lösegeldforderung schafft Gewissheit.

Geht ein elfjähriges Kind einfach so fort? Passiert das nicht eher in der Fantasie, aber nicht im realen Leben.

Es ist der Albtraum, den man auch als Leser kaum aushalten kann. Maike Wetzel findet eine leise Sprache, die man ertragen kann, die nicht aufbauscht, sondern dezent und sensibel die Geschichte dieser Familie mit ihren Ängsten, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung erzählt.

Vier Jahre später, ganz unerwartet, taucht eine Verschollene auf, ein Mädchen, eigentlich schon eine junge Frau, die nun die neue Elly spielt. Kann sie wirklich die wiedergekehrte Elly sein? Sie muss es sein, nur die Großeltern wenden sich ab, erkennen die Täuschung, wollen sich nicht betrügen lassen, im Gegensatz zu Judith, Hamid und Ines.

Die Flucht in die Lüge, in den Wunsch, endlich leben zu können, kann jeder verstehen.