Mechthild Gläser: Die Buchspringer, Loewe Verlag, Bindlach 2015, 384 Seiten, €17,95, 978-3-7855-7497-3

„Noch mehr verwirrte mich aber, was ich schließlich am Sonntagvormittag in der Buchwelt erfuhr. Werther und ich hatten gerade im „Zauberer von Oz“ Dorothys silberne Schuhe bewundert und saßen nun in einer Nische des „Tintenfasses“, als ein Schwarm Feen durch eines der gekippten Fenster hereinsummte.“

Nach gut 17 Jahren kehrt Amy Lennox mit ihrer immer schrill-bunt gekleideten Mutter Alexis zurück auf die schottische Heimatinsel Stormsay. Alexis hatte sie verlassen als sie bemerkte, dass sie schwanger war. Amy weiß so gar nichts über ihre Familie und auch nur kurz soll der Ferienaufenthalt bei ihrer Großmutter, Lady Mairead, sein. Lesesüchtig wie Amy ist packt sie auch mehr Bücher als Klamotten ein. Sie liebt „Stolz und Vorurteil“, aber auch immer noch „Momo“ oder „Oliver Twist“. Amy vergräbt sich auch in ihrer Lektüre, weil die Buchhelden niemanden enttäuschen und zumal die Erinnerungen an das vergangene Schuljahr einfach nur belastend sind. Jolina, ihre angebliche Freundin, hat perfide Fotos von Amy, der Streberin, ins Netz gestellt.
Hätte Amy geahnt, was sie auf der Insel erwartet, hätte sie alle Bücher zu Hause lassen können, denn Lady Mairead zeigt ihrer Enkelin die Geheime Bibliothek auf House Lennox. Hier stehen nicht nur Bücher, sondern Amy kann aufgrund ihrer einzigartigen Begabung auch in die Welt der Literatur von einem Steinkreis aus hineinspringen. Sie ist vom Geschlecht der Lennox und somit ist sie eine Buchspringerin. Sie muss schwören, dass sie nur durch die Seiten spaziert und nie in den Lauf der Handlung eingreift und somit dem „Schutz der Geschichten“ dient. Aber alles will gelernt sein und somit nimmt sie am Unterricht von Glenn teil, den auch Will und Betsy Macalister besuchen. Die Lennox und Macalister sind nicht gerade freundschaftlich verbunden, da die Insel jedoch klein ist, müssen sie miteinander auskommen.

Parallel zur Geschichte, die Amy erzählt, auch Will kommt zu Wort, zieht sich ein Märchen durch die Handlung, das auf einem Manuskript beruht, dass einst verbrannt wurde. Gerettet werden konnten nur einige literarische Figuren, u.a. Glenn, aber auch Desmond. Desmond ist, und das findet Amy erst nach einem Streit mit Alexis heraus, ihr Vater. Aus diesem Grund kann Amy auch ohne Steinkreis, einfach so, in die Bücherwelt springen. Allerdings geschehen in der Welt der Literatur seltsame Dinge.
Sherlock Holmes wurde in der sogenannten „Draußenwelt“ tot aufgefunden.
Jemand scheint innerhalb der Bücher Ideen zu stehlen.

Eigentlich soll Amy ja nur im „Dschungelbuch“ anwesend sein, aber sie geht einfach an den Rand des Romans und trifft Werther. Mit ihm stellt sie fest, dass unheimliche Dinge geschehen, so verpasst zum Beispiel Alice das weiße Kaninchen, der Sommer entschwindet aus dem „Sommernachtstraum“ oder Elizabeth Bennet aus „Stolz und Vorurteil“ bricht sich ein Bein.
Will beschließt, immerhin hatte er Sherlock Holmes in die wahre Welt geholt, in die Buchwelt zu springen. Und so muss Amy mit Werther nach dem Buchdieb suchen.
Möglicherweise erhärtet sich der Verdacht, dass jemand das alte, verbrannte Manuskript, immerhin sind die Buchfiguren, die in der Geheimen Bibliothek leben, über 300 Jahre alt, wieder auf Kosten der bestehenden Literatur rekonstruieren will.
Die zehn wichtigsten Ideen der Weltliteraturgeschichte entschwinden aus den Büchern. Und ganz nebenbei ist auch noch Amys Leben in Gefahr. Steckt Will hinter der ganzen Sache oder eher die feindselige Betsy, die Amy nicht ausstehen kann?

nMechthild Glaser spielt in ihrer Geschichte mit bekannten literarischen Helden von Schir Khan über die sieben Zwerge bis hin zu Jane Eyre. Das kann vergnüglich sein, wenn man sich in der Weltliteratur auskennt. Die Hauptfigur Amy jedenfalls lernt auch alle Zutaten, komprimiert in einer kleinen Stadt, kennen, die sprachlich zu einer guten Geschichte führen.

„ Eine Apotheke pries in ihrem Schaufenster eine Mittel gegen schwache Verben an und eine dicke Frau mit einem Bauchladen rief irgendetwas von einem Wunderpulver, aus dem sich angeblich in Sekunden ein Happy End anrühren ließ, wenn man gerade keins griffbereit hatte.“
Ob die Buchspringer ihre ganz eigene Welt retten können, das bleibt ein Geheimnis, so wie der Zauber der Literatur, den jeder Leser für sich entdecken muss.