Julia Jessen: Die Architektur des Knotens, Kunstmann Verlag, München 2018, 432 Seiten, €24,00, 978-3-95614-229-1

„Ich möchte meinen Kindern ein Zuhause sein. Ich möchte ein Mensch sein, dessen Türen weit offen stehen, ein lebendiger Mensch. Alle würden behaupten, das ich das war. War ich aber nicht. Nicht so, wie ich es jetzt bin.“

Zu Beginn schaut Yvonne ihren Kindern, John ist acht, Mika vier, beim Spielen zu. Die Jungen erbauen akribisch ihre eigene Stadt mit unterschiedlichsten Spielzeugen. Als Mutter beobachtet Yvonne diese friedliche Zusammenarbeit der beiden, kein hysterisches Weinen von Mika, der sich vom älteren Bruder zurückgedrängt fühlt, keine Überlegenheitsgesten von John. Langsam wird klar, die beiden hecken irgendetwas aus. Nach dem längeren Spiel mit der detailreich ausgeschmückten Stadt beginnt ein enormer Krach, der Yvonnes Mann, Jonas anlockt. Die Jungen zerschlagen lustvoll ihren Aufbau.
Wochen später wird Yvonne die eigene Familie zerstören, denn sie hat für sich registriert, dass sie einfach ihr Leben so nicht weiterführen kann und will. Yvonne ist Ende dreißig und arbeitet als Grundschullehrerin, Jonas teilt sich als Physiotherapeut die Praxis mit Frank, der bald Andrea heiraten wird. Doch warum beschleicht Yvonne dieses depressive Gefühl, diese drängende Sehnsucht nach Veränderung? Fühlt sie sich einsam, unglücklich, kann sie nicht mehr mit Jonas sprechen, ist der Sex nach fünfzehn Jahren Ehe zu langweilig oder gar nicht mehr existent?
Nach außen hin scheint alles in Ordnung, es gibt keine Streitereien, keine Sticheleien.
Durch Yvonnes Gedankenstrom lernt der Leser ihre Sicht kennen, auch Jonas Perspektive wird verdeutlicht.

Als die Familie zu Jonas‘ Freund Sven in die Nähe von Kopenhagen fährt, Baby Ella soll getauft werden, beobachtet Yvonne andere Frauen und bemerkt, dass sie sich selbst verloren hat. Durch die immer gleiche Abfolge der Tage, die auf Dauer ermüdend ist, spürt sie, so ihr Gefühl, sich selbst nicht mehr. Sie geht mit Mille, der Frau von Sven, und Peter am Abend noch tanzen und schläft mit Peter, der gut zehn Jahre jünger ist.
Yvonne erzählt Jonas von Peter, alles gerät in eine Schieflage, die Yvonne einerseits befreit, andererseits aber in tiefe seelische Konflikte stürzt, denn sie kann Jonas keine Antworten geben, die ihm helfen, alles zu verstehen. Er kann nicht fassen, dass seine Frau alles infrage stellt und mit diesem Mann, der in Hamburg lebt, immer noch Kontakt hat. Peter führt mit seiner Frau, sie haben keine Kinder, eine offene Beziehung. Doch was bindet Yvonne an Peter, ist es das Körperliche, die Abwechslung? Sie zieht in ein Hotel, überlässt Jonas die Kinder und kann es kaum aushalten, von ihnen getrennt zu sein. Yvonne versucht einer guten Freundin ihre Lage zu erklären, aber es funktioniert nicht. Wenn Yvonne bei den Kindern ist und auf Inge, ihre Schwiegermutter trifft, sieht sie sich mit Vorwürfen konfrontiert, die sie reglos annimmt. Sie weiß selbst nicht, wie sie das Dilemma in ihrer Familie regeln soll. Für sie ist alles offen, für die anderen alles in Unordnung.
Auf der Suche nach dem anderen, dem anderen Lebensmodell hängt Yvonne in der Luft, kauft sich ein Bild, um sich selbst besser kennenzulernen, schläft mit Peter und findet keine Antwort.
Jonas hält nur die Wut auf Yvonne aufrecht. Die Jungen spüren die seltsame Atmosphäre, leiden unter den Abwesenheit der Mutter.

Sprachlich glanzvoll offenbart Julia Jessen den festgezurrten Knoten, den ihre Protagonistin nicht zu zerschlagen vermag. Kann der Leser sie verstehen oder bleibt ihm alles ein Rätsel? Offen sein für Veränderungen als Plädoyer für ein gelungenes Leben. Nicht an dem Gewohnten festhalten, Flüchtlinge unterrichten und etwas tun und nicht nur lamentieren und Reden schwingen, wie Jonas‘ Freund Sven, mit dem Yvonne auf der Hochzeit von Frank in einen Streit gerät. Zusammen gehen Jonas und Yvonne auf diese Hochzeit, auch wenn sie kein Paar mehr sind. Dass sich Jonas bereits eine neue Freundin gesucht hat und diese zum Geburtstag seines Sohnes mitbringt, ärgert Yvonne. Aber es ist seine Entscheidung. Julia Jessens Figuren, ihre Beweggründe und Motivationen sind wirklichkeitsnah und doch ambivalent, nicht perfekt und doch konsequent. Ein Roman, der lange nachwirkt und auch befremdet.