Tracy Barone: Das wilde Leben der Cheri Matzner, Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 501 Seiten, €25,00, 978-3-257-07055-2

„Sie ist erfüllt von einer tiefen Sehnsucht, dem intensiven Gefühl, etwas zu vermissen, was sie nie wirklich hatte. Sie ist kindlich und ursprünglich, diese Wunschvorstellung von einer Familie; der Gedanke, dass immer jemand für dich da ist, egal, was passiert.“

Es ist das Jahr 1962 in Chicago, in dem ein junges Mädchen namens Miriam ein Kind bekommt und das Krankenhaus ziemlich schnell ohne ihre Tochter verlässt. Auf einen Zettel schreibt sie den Namen des Vaters, allerdings orthografisch falsch, und sie hinterlässt einen Halskettenanhänger für ihr Kind. Als dies hat Billy Beal, ein Junge, dem Sozialstunden aufgebrummt wurden, beobachtet, der nun seine Mutter überredet, das Baby in Pflege zu nehmen. Von hier aus wird die Kleine zu Cici Matzner kommen, die gerade ihre Tochter, eine Frühgeburt, verloren hat. Ein Glücksfall, könnte man meinen, aber diese Tochter, die Cici Cheri nennt, ist ein äußerst schwieriges Kind.

Zeitversetzt erzählt Tracy Barone nun von Cici und Cheri. Weitschweifig, in dialogischer Sprache taucht die Autorin detailgenau und tief in die Lebensgeschichten ihrer Figuren ein. Nie erfüllt Cheri die Erwartungen ihrer Eltern. Sie reagiert instinktiv auf die innere Ablehnung ihres Vaters Solomon Matzner, der, und das wird sie als Studentin an der Universität entdecken, eine zweite Familie mit Sohn hat. Cici konnte nach der Geburt ihres Kindes keine Kinder mehr bekommen und das Körperliche, das Cici und Sol einst verbunden hat, geht nun völlig in Cicis Mutterliebe unter.
Bereits als Kind wehrt sich Cheri gegen die übergroße Zuneigung ihrer Mutter, die nicht verstehen kann, dass die Tochter wie ein Junge herumläuft. Die katholische Cici stammt aus Mailand und ist Solomon, der eigentlich jüdischer Herkunft war und konvertierte, in die USA gefolgt. Als Radiologe arbeitet Solomon mehr als er müsste, entwickelt sogar ein Patent, dass ihn reich machen wird. Als er auf der Straße plötzlich umkippt und stirbt, vermacht er das Vermögen aus den Patenten seiner Tochter Cheri, die nie Geld von ihm annehmen wollte. Voller Hass hatte sie sich gegen ihn gestellt, auch aus Liebe zu ihrer Mutter, die sie aber nie so richtig zeigen konnte. Nur durch einen Zufall hört Cheri bei ihrem ersten Aufenthalt mit der Mutter in Italien, dass sie selbst ein Adoptivkind ist.
Während ihrer Teenagerzeit rebelliert die mutige Cheri gegen die Eltern und lässt sich Tattoos und Piercings stechen. Sie arbeitet als Polizistin, um den Schwachen zu helfen, und geht dort durch die Hölle, wechselt erneut, studiert alte Sprachen, schreibt Bücher und unterrichtet als Professorin.

Ein Handlungsstrang setzt ein als Cheri einundvierzig Jahre alt ist und in einer tiefen Lebenskrise steckt. Sie ist mit Michael, einem erfolglosen Filmemacher verheiratet und versucht ohne Erfolg schwanger zu werden, obwohl sie und Michael eigentlich nie Kinder wollten. In einem Seminar, ihr Gebiet ist die Altorientalistik, kommt es zu einem Streitgespräch mit einem Studenten, der Cheri, sein Vater ist ein Gönner der Universität, der Diskriminierung anklagt. Cheris Ehe ist längst nicht mehr glücklich, die Mutter sitzt ihr mit ihren ständigen Anrufen im Nacken und die Uni beruft eine Untersuchungskommission ein und stellt Cheri als Lehrkraft frei. Doch dann folgt ein Schicksalsschlag nach dem anderen, den Cheri mit Hilfe von Cici überleben wird. Am Ende steht sie, auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, vor ihrem leiblichen Vater und Billy Beal, der ihr den Schmuck ihrer leiblichen Mutter übergeben wird.
Emotional überbordend und zum Teil widersprüchlich sind die Themen, die die amerikanische Autorin, die in Hollywood lebt und als Executive Producer an großen Filmproduktionen beteiligt war, aufgreift. Extreme Familienkonflikte gehören genauso dazu, wie Fragen der Herkunft, der Erziehung, aber auch Vergeben und Neuanfänge.

Die Konstruktion des Romans ist vielversprechend und unterhaltsam: Erzählt wird im Wechsel der Perspektiven, woraus sich spannungsreiche Interferenzen zwischen den jeweiligen Wahrheiten der Figuren ergeben. Außerdem ist der Roman gut geschrieben, denn nie verliert der Leser den Überblick, auch wenn die Geschichte sich mit reichem Personal weit über vierzig Jahre erstreckt.