Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Droemer Verlag, München 2013, 381 Seiten, €19,99, 978-3-426-41756-0

„Ich beschreibe Lucile aus der Sicht des zu schnell groß gewordenen Kindes, ich schreibe über das Mysterium, das sie mir immer war, sie, die immer so präsent und zugleich so fern war und die mich nach meinen zehnten Geburtstag nie mehr in die Arme genommen hat.“

Es ist ein heikles Unterfangen, die eigene Familie in den Mittelpunkt eines Romans zu rücken. Nichts wird hinzuerfunden, nichts beschönigt. Doch Erinnerungen sind immer brüchig, subjektiv oder zeitlich verschoben, nicht genau. Aber sie helfen, um ein Bild von einem Menschen zu formen, ihn wieder lebendig zu machen.

Um Lucile, ihre schöne, immer leicht entrückte Mutter beschreiben zu können, befragt Delphine de Vigan die noch lebenden Verwandten, die Schwestern der Mutter, Manon, ihre eigene Schwester, die Freunde. Sie beruft sich auf Szenen, Erinnerungsfetzen aus der Kindheit und die sporadischen Aufzeichnungen von Lucile.
Sensibel, vor allem diskret und voller Zweifel unterbricht die französische Autorin immer wieder ihren Schreibfluss, um sich selbst zu vergewissern, ob das, was sie festhält, auch so in Ordnung ist.

Zwei Jahre nach dem Freitod Luciles entschließt sich die Autorin, um Abschied zu nehmen, aus Liebe oder gar Schuldgefühlen, die Familiengeschichte ihrer Mutter aufzuschreiben. Sie hatte die Tote in ihrer kleinen Wohnung gefunden. Der Suizid war geplant, nichts hat Lucile dem Zufall überlassen.

Hineingeboren wurde Lucile in eine große Familie. Sie liebte die Momente, in denen sie mit ihrer Mutter Lian allein war, die Tage, an denen sie von ihr zu Fotoshootings für Modezeitschriften begleitet wurde. Lucile fiel in ihrer Familie gerade durch ihre natürliche Anmut, ihre Schönheit auf. Die fröhliche, wie sportliche Lian und der charismatische, gern im Mittelpunkt stehende Georges wollten viele Kinder, neun sollten es werden. Hektisch und laut ging es bei den Poirers zu. Rückzugsmöglichkeiten fanden die Kinder in der beengten Wohnung kaum. Erst als Georges Werbeagentur besser lief, konnte die Familie in ein Haus nahe Versailles umziehen. Im Sommer zog es die Großfamilie, die auch immer wieder Freunde der Kinder mitnahm, nach Pierremont. Je größer die Familie wurde, um so ausgelassener wurden die Tischgespräche, die Unternehmungen und die Konflikte. Lucile jedoch spürte in sich immer wieder diese Angst, sie hatte etwas Dunkles. Später wird sie sich aus diesen Zusammenkünften der Familie zurückziehen, die Menge meiden.

Bei aller Ausgelassenheit, den Geldsorgen und der Freude aneinander, bedrückten die Familie aber auch tragische Verluste. So starb Antonin mit sechs Jahren durch einen Unfall. Jean-Marc, ein misshandeltes Kind, das in die Familie aufgenommen wurde, setzte seinem Leben mit 17 Jahren ein Ende, auch durch einen selbst verursachten Unfall. Als die ältesten Kinder fast schon groß waren, wurde Lian noch einmal schwanger. Tom kommt mit dem Down-Syndrom auf die Welt und entgegen allen Ratschlägen der Ärzte landet er nicht in einem Heim. Georges und Lian setzen alle Hebel für ihren Sohn in Bewegung, damit er ein normales Leben führen kann.

Lucile, immer auch der Liebling des Vaters, beobachtet nach und nach seine negativen Seiten. Er kommt nicht klar mit, die Familie nennt es „das blöde Alter“, der Pupertät, der Abnabelung der großen Kinder, die er trotz Stolz auf sie auch bewusst demütigt. Im Alter wird er ein verbitterter Mensch werden.

Vieles schreibt Delphine de Vigan nur in Andeutungen, berichtet von den Mechanismen, der eigenen Sprache, Verhaltenskodexen, die sich in Familien ausbilden, berichtet auch zwischen den Zeilen, wie es zugegangen sein mag.
Lucile wird mit 18 Jahren heiraten, Delphine zur Welt bringen und Manon. Und sie wird nach sieben Jahren Ehe sich mit vielen Streitereien scheiden lassen.

Jetzt ist Lucile, die gern unkonventionell lebt, trinkt, kifft, auf sich gestellt. Sie wechselt die Männer, wie die Arbeitsstellen. Sie gibt den Kindern viele Freiheiten und lässt sie mehrere Stunden am Tag allein.

Schon früh, so die Autorin, haben die Schwestern erkannt, wie fragil die Mutter ist.

Ihre Zerbrechlichkeit, Schweigsamkeit und Todessehnsucht nimmt mit den Jahren zu. Als Delphine zwölf Jahre alt ist, beginnt die Mutter zu schreiben, offenbart der Familie, sie ist jetzt 32 Jahre alt, ihre Ansicht über das mehr als anzügliche Verhalten des Vaters ihr gegenüber. Eine Wand aus Schweigsamkeit schlägt ihr entgegen. Sie revidiert das Geschriebene und löst vielleicht dadurch ihre Krankheit aus – eine bipolare Störung.

Die Mutter verbringt gut zehn Jahre „in der chemischen Zwangsjacke“, die Kinder wachsen beim Vater in der Normandie auf. Wenn sie die Mutter in Paris an den Wochenenden besuchen, dann spüren sie, wie viel Kraft und Mühe die Mutter aufwendet, um ihre Mädchen bei sich zu haben.
Die guten Phasen werden von den Wahnphasen abgelöst. Die Töchter sind auf der Suche nach dem eigenen Leben, ohne die Mutter je aus den Augen zu verlieren.

„Nein. Niemand kann einen Freitod verhindern.“ schreibt Delphine de Vigans Sohn in seiner Hausarbeit. Und sie resümiert: „Musste ich ein von Liebe und Schuldgefühlen geprägtes Buch schreiben, um zu demselben Schluss zu gelangen?“

Der Leser taucht, trotz aller Diskretion, tief in dieses quirlig fröhliche, komplizierte und doch auch unbeschwerte Familienleben ein. Luciles Lebensabschnitte werden durch die Erzählungen, die erinnerten Episoden und die Sicht der anderen offengelegt. Nie behauptet die Autorin, sie würde eine Charakterstudie ihrer Mutter verfassen. Behutsam dringt Delphine de Vigan in die Geschichte ihrer Hauptfigur vor, trägt Schicht um Schicht der Fassade ab, bis der Leser ihr nahe kommt und auch wieder nicht.

Das Coverbild mit dieser schönen, rauchenden, jungen Frau stellt nicht irgendjemanden dar, es ist Lucile im Kreis ihrer Familie. Ihr Lächeln bleibt rätselhaft, wie streckenweise ihr Leben.

Und so wie die Autorin fragt man sich nach der Lektüre dieses Buches, was gibt man an seine Kinder weiter, in welcher Erinnerung werden sie uns einst zurückbehalten. Wie befreie ich mich vor der Angst, dass etwas Dunkles geschehen könnte?