Natasha Bell: Alexandra, Aus dem Englischen von Pauline Kurbasik, Diana Verlag, München 2019,
415 Seiten, €17,00, 978-3-453-29197-3

„Ich weiß nicht, ob ich ausreiche. Ich will Künstlerin sein. Ich will, dass mein Leben etwas bedeutet.“

Alexandra und Marc Southwood sind seit vierzehn Jahren verheiratet und haben zwei Mädchen, Charlotte und Lizzie. Sie leben in York, haben ein schönes Haus, Arbeit und Freunde. Sie lieben sich immer noch und alles scheint in bester Ordnung bis zu dem Tag, an dem Alexandra nicht nach Hause zurückkehrt. Detective Inspector Jones behandelt das Verschwinden Alexandras mit einer Seelenruhe, die Marc einfach nur hektischer und verzweifelter macht. Tage, Wochen vergehen und niemand meldet sich. Nur der Fund ihrer Sachen am Fluss, ihr Pullover ist blutverschmiert, weisen auf ein Tat hin, die Marc nicht wahrhaben will.

Als Ich-Erzählerin fungiert in diesem Thriller die verschwundene Figur. Alexandra berichtet von den Geschehnissen seit ihrem Verschwinden und sie erinnert sich an die erste Begegnung mit Marc und ihr Leben in York. Denn eigentlich wollte Alexandra nach ihrem zweiten Treffen mit Marc wieder nach Chicago zu ihren Kunstprojekten zurückkehren. Aber kurzerhand entschließt sie sich zu bleiben. Das wahre Leben hat ihr somit einen Strich durch ihre Pläne gemacht. Marc kann nicht glauben, dass sie wirklich alles für ihn aufgibt, Kinder bekommt und ein bürgerliches Leben als Kunstlehrerin im übersichtlichen York führen wird.
Alles was Alexandra über das Leben ihrer Familie berichtet, ist zwar aus erster Hand, aber es ist ihre Sicht. Die Erzählungen über das Geschehen nach 2013, ihrem Verschwinden, sind Mutmaßungen.
Doch wo ist sie? Wer ist dieser Mann, der sie ausfragt, zum Reden auffordert, bedroht, festhält?

Die Zeit vergeht und es offenbaren sich immer mehr Zeichen, dass die impulsive und spontane Alexandra vielleicht doch nicht so glücklich an Marcs Seite war. In einzelnen Szenen wird klar, dass Alexandra durchaus gegen ihr konformes und angepasstes Leben revoltiert. Sie wollte mit Marc nach der Geburt der Tochter einfach mal so nach Lateinamerika gehen. Das war ihr erster wirklich ernsthafter Streit. Sie ermutigt die Tochter von Freunden zu einem mit Blut überströmten Kunstprojekt, damit sie endlich ihre inneren Konflikte freilegen kann. Die Schule ist nicht erfreut. Sie glaubt, dass ein achtjähriges Kind freie Entscheidungen auch gegen den Willen der Mutter, wieder eine Freundin von Alexandra, durchsetzen darf. Und sie bemerkt, dass ihre Tochter Lizzie die Andersartigkeit der Mutter mehr als nur verachtet. Sie will unbedingt „normal“ sein, was Alexandra mehr als aufbringt.

Mittlerweile ist viel Zeit vergangen und die Polizei denkt auch nach öffentlichen Aufrufen durch die Medien an ein Tötungsdelikt. Marc sucht in den Sachen seiner Frau nach Zeichen für ihren freiwilligen Weggang. Er findet Briefe eine Freundin, Amelia Heldt, aus Chicago, die ihren Weg als Künstlerin kompromisslos und radikal über die Empfindungen ihrer Bekannten und Freunde hinweg geht.
Für sie bedeutet Kunst die Offenlegung wahrer Gefühle, die nicht mehr im Privaten ihren Platz haben. Sicher denkt man als Leser sofort an Karl Ove Knausgård, der sein Leben in sieben Büchern und einer eleganten, wie fesselnden Sprache schonungslos und ohne Rücksicht auf Familienangehörige offen gelegt hat. Stellt sich auch die Frage, wo endet die Kunst und ab wann ist der Künstler einfach nur ein peinlicher Voyeurist. Amelias Briefe beschäftigen Marc, wusste sie doch mehr über Alexandras Leben als er. Zumal er nun erfahren hat, dass seine alkoholsüchtige Schwiegermutter, die von Alexandra immer wieder besucht wurde, bereits vor sechs Jahren verstorben ist. Was hat Alexandra in der Zeit gemacht, in der sie angeblich bei der Mutter war.

Etwas plakativ, aber doch spannend umrundet die englische Autorin Natasha Bell die Fragen der bürgerlichen Existenz, der Rolle der Frau und vor allem die Frage der Identität. Wie weit darf die Kunst gehen, ist ebenfalls eine Frage, die sich der Leser nach diesem Roman stellt, der bis zum Ende die Spannung hält.